Und da verdient der Punkt, von zween Sei- ten mißverstanden, einige Erörterung.
Die Religion der alten Welt, die aus Morgenlande über Aegypten nach Griechen- land und Jtalien gekommen, war in allem Betracht ein verduftetes kraftloses Ding ge- worden, das wahre Caput mortuum dessen, was sie gewesen war und seyn sollte. Wenn man nur die spätere Mythologie der Griechen und die Puppe von politischer Völkerreli- gion bey den Römern betrachtet: so brauchts keines Worts mehr -- -- Und doch war nun auch fast "kein ander Principium der Tugend" in der Welt! Die römische Aufopferung fürs Vaterland war von ihrer Höhe gesunken und lag im Moraste der Schwelgerey und kriege- rischer Unmenschlichkeit. Griechische Jugend- ehre und Freyheitliebe -- wo war sie? Und der alte ägyptische Geist, wo war er, als Grie- chen und Römer in ihrem Lande nisteten? Wo- her nun Ersatz? Philosophie konnte ihn nicht geben: sie war das ausgeartetste Sophisten- zeug, Disputirkunst, Trödelkram von Mey- nungen ohne Kraft und Gewißheit, eine mit alten Lumpen behangene Holzmaschine ohne Würkung aufs menschliche Herz, geschweige
denn
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Und da verdient der Punkt, von zween Sei- ten mißverſtanden, einige Eroͤrterung.
Die Religion der alten Welt, die aus Morgenlande uͤber Aegypten nach Griechen- land und Jtalien gekommen, war in allem Betracht ein verduftetes kraftloſes Ding ge- worden, das wahre Caput mortuum deſſen, was ſie geweſen war und ſeyn ſollte. Wenn man nur die ſpaͤtere Mythologie der Griechen und die Puppe von politiſcher Voͤlkerreli- gion bey den Roͤmern betrachtet: ſo brauchts keines Worts mehr — — Und doch war nun auch faſt „kein ander Principium der Tugend„ in der Welt! Die roͤmiſche Aufopferung fuͤrs Vaterland war von ihrer Hoͤhe geſunken und lag im Moraſte der Schwelgerey und kriege- riſcher Unmenſchlichkeit. Griechiſche Jugend- ehre und Freyheitliebe — wo war ſie? Und der alte aͤgyptiſche Geiſt, wo war er, als Grie- chen und Roͤmer in ihrem Lande niſteten? Wo- her nun Erſatz? Philoſophie konnte ihn nicht geben: ſie war das ausgeartetſte Sophiſten- zeug, Diſputirkunſt, Troͤdelkram von Mey- nungen ohne Kraft und Gewißheit, eine mit alten Lumpen behangene Holzmaſchine ohne Wuͤrkung aufs menſchliche Herz, geſchweige
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Und da verdient der Punkt, von zween Sei-
ten mißverſtanden, einige Eroͤrterung.
Die Religion der alten Welt, die aus
Morgenlande uͤber Aegypten nach Griechen-
land und Jtalien gekommen, war in allem
Betracht ein verduftetes kraftloſes Ding ge-
worden, das wahre Caput mortuum deſſen,
was ſie geweſen war und ſeyn ſollte. Wenn
man nur die ſpaͤtere Mythologie der Griechen
und die Puppe von politiſcher Voͤlkerreli-
gion bey den Roͤmern betrachtet: ſo brauchts
keines Worts mehr — — Und doch war nun
auch faſt „kein ander Principium der Tugend„
in der Welt! Die roͤmiſche Aufopferung fuͤrs
Vaterland war von ihrer Hoͤhe geſunken und
lag im Moraſte der Schwelgerey und kriege-
riſcher Unmenſchlichkeit. Griechiſche Jugend-
ehre und Freyheitliebe — wo war ſie? Und
der alte aͤgyptiſche Geiſt, wo war er, als Grie-
chen und Roͤmer in ihrem Lande niſteten? Wo-
her nun Erſatz? Philoſophie konnte ihn nicht
geben: ſie war das ausgeartetſte Sophiſten-
zeug, Diſputirkunſt, Troͤdelkram von Mey-
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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/73>, abgerufen am 16.02.2025.
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