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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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Widersprüche und Ungewißheiten zeigen, die
in Erstaunen setzen; aber niemand, als der
sein idealisch Schattenbild von Tugend, aus
dem Kompendium seines Jahrhunderts mit-
bringt, und Philosophie gnug hat, um auf
einem Erdenfleck die ganze Erde finden zu
wollen, sonst keinen! Für jeden, der mensch-
liches Herz aus dem Elemente seiner Lebens-
umstände
erkennen will, sind dergleichen Aus-
nahmen
und Widersprüche vollkommen
menschlich: Proportion von Kräften und
Neigungen zu einem gewissen Zwecke, der
ohne jene nimmer erreicht werden könnte: also
gar keine Ausnahmen, sondern Regel.

Seis, mein Freund, daß jene kindliche
orientalische Religion, jene Anhänglichkeit
an das weichste Gefühl des menschlichen Le-
bens auf der andern Seite Schwächen gebe,
die du nach dem Muster andrer Zeiten ver-
dammest. Ein Patriarch kann kein römischer
Held, kein griechischer Wettläufer, kein
Kaufmann von der Küste seyn; und eben so
wenig, wozu ihn das Jdeal deines Katheders,
oder deiner Laune hinaufschraubte, um ihn
falsch zu loben, oder bitter zu verdammen.
Seis, daß er nach spätern Vorbildern dir

furcht-
D 2



Widerſpruͤche und Ungewißheiten zeigen, die
in Erſtaunen ſetzen; aber niemand, als der
ſein idealiſch Schattenbild von Tugend, aus
dem Kompendium ſeines Jahrhunderts mit-
bringt, und Philoſophie gnug hat, um auf
einem Erdenfleck die ganze Erde finden zu
wollen, ſonſt keinen! Fuͤr jeden, der menſch-
liches Herz aus dem Elemente ſeiner Lebens-
umſtaͤnde
erkennen will, ſind dergleichen Aus-
nahmen
und Widerſpruͤche vollkommen
menſchlich: Proportion von Kraͤften und
Neigungen zu einem gewiſſen Zwecke, der
ohne jene nimmer erreicht werden koͤnnte: alſo
gar keine Ausnahmen, ſondern Regel.

Seis, mein Freund, daß jene kindliche
orientaliſche Religion, jene Anhaͤnglichkeit
an das weichſte Gefuͤhl des menſchlichen Le-
bens auf der andern Seite Schwaͤchen gebe,
die du nach dem Muſter andrer Zeiten ver-
dammeſt. Ein Patriarch kann kein roͤmiſcher
Held, kein griechiſcher Wettlaͤufer, kein
Kaufmann von der Kuͤſte ſeyn; und eben ſo
wenig, wozu ihn das Jdeal deines Katheders,
oder deiner Laune hinaufſchraubte, um ihn
falſch zu loben, oder bitter zu verdammen.
Seis, daß er nach ſpaͤtern Vorbildern dir

furcht-
D 2
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[51/0055] Widerſpruͤche und Ungewißheiten zeigen, die in Erſtaunen ſetzen; aber niemand, als der ſein idealiſch Schattenbild von Tugend, aus dem Kompendium ſeines Jahrhunderts mit- bringt, und Philoſophie gnug hat, um auf einem Erdenfleck die ganze Erde finden zu wollen, ſonſt keinen! Fuͤr jeden, der menſch- liches Herz aus dem Elemente ſeiner Lebens- umſtaͤnde erkennen will, ſind dergleichen Aus- nahmen und Widerſpruͤche vollkommen menſchlich: Proportion von Kraͤften und Neigungen zu einem gewiſſen Zwecke, der ohne jene nimmer erreicht werden koͤnnte: alſo gar keine Ausnahmen, ſondern Regel. Seis, mein Freund, daß jene kindliche orientaliſche Religion, jene Anhaͤnglichkeit an das weichſte Gefuͤhl des menſchlichen Le- bens auf der andern Seite Schwaͤchen gebe, die du nach dem Muſter andrer Zeiten ver- dammeſt. Ein Patriarch kann kein roͤmiſcher Held, kein griechiſcher Wettlaͤufer, kein Kaufmann von der Kuͤſte ſeyn; und eben ſo wenig, wozu ihn das Jdeal deines Katheders, oder deiner Laune hinaufſchraubte, um ihn falſch zu loben, oder bitter zu verdammen. Seis, daß er nach ſpaͤtern Vorbildern dir furcht- D 2

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/55>, abgerufen am 25.11.2024.