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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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Europens. Elend und Jammer, unter dem
das Jahrhundert des französischen großen Königs
seufzte, zum Theil vorüber: die Zwecke, zu
denen er alles wollte und brauchte, vergessen,
oder stehn als Puppen der Eitelkeit und Hohn-
lache müßig da: all seine eherne Meere, die
er selbst trug, und die Wände, wo er immer
selbst leibte, sind dem Gedanken jedwedes preis-
gegeben, der auch nicht dabey denken will,
was Ludwig wollte -- Aber Geist der Kün-
ste
an ihnen geübt ist blieben. Die For-
schungen der Kraut- und Münz- und Edel-
stein-
und Wasserwaage- und Messungsrei-
sen
bleiben, wenn alles verfallen ist, was dar-
an Theil hatt' und was dadurch litt' und wo-
zu es sollte! die Zukunft streift uns unsre
Schlaube ab und nimmt den Kern. Der
kleine Zweig hat nichts davon, aber an ihm
hangen die lieblichen Früchte.

Wie nun? wenn einst alle das Licht, das wir
in die Welt säen, womit wir jetzt viel Augen
blenden, viel elend machen und verfinstern,
allenthalben gemäßigt Lebenslicht und Lebens-
wärme
würde -- die Masse von todten aber
hellen Kenntnissen, das Feld voll Beine, was
auf- um- und unter uns liegt, wurde --

wo-



Europens. Elend und Jammer, unter dem
das Jahrhundert des franzoͤſiſchen großen Koͤnigs
ſeufzte, zum Theil voruͤber: die Zwecke, zu
denen er alles wollte und brauchte, vergeſſen,
oder ſtehn als Puppen der Eitelkeit und Hohn-
lache muͤßig da: all ſeine eherne Meere, die
er ſelbſt trug, und die Waͤnde, wo er immer
ſelbſt leibte, ſind dem Gedanken jedwedes preis-
gegeben, der auch nicht dabey denken will,
was Ludwig wollte — Aber Geiſt der Kuͤn-
ſte
an ihnen geuͤbt iſt blieben. Die For-
ſchungen der Kraut- und Muͤnz- und Edel-
ſtein-
und Waſſerwaage- und Meſſungsrei-
ſen
bleiben, wenn alles verfallen iſt, was dar-
an Theil hatt’ und was dadurch litt’ und wo-
zu es ſollte! die Zukunft ſtreift uns unſre
Schlaube ab und nimmt den Kern. Der
kleine Zweig hat nichts davon, aber an ihm
hangen die lieblichen Fruͤchte.

Wie nun? wenn einſt alle das Licht, das wir
in die Welt ſaͤen, womit wir jetzt viel Augen
blenden, viel elend machen und verfinſtern,
allenthalben gemaͤßigt Lebenslicht und Lebens-
waͤrme
wuͤrde — die Maſſe von todten aber
hellen Kenntniſſen, das Feld voll Beine, was
auf- um- und unter uns liegt, wurde —

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[168/0172] Europens. Elend und Jammer, unter dem das Jahrhundert des franzoͤſiſchen großen Koͤnigs ſeufzte, zum Theil voruͤber: die Zwecke, zu denen er alles wollte und brauchte, vergeſſen, oder ſtehn als Puppen der Eitelkeit und Hohn- lache muͤßig da: all ſeine eherne Meere, die er ſelbſt trug, und die Waͤnde, wo er immer ſelbſt leibte, ſind dem Gedanken jedwedes preis- gegeben, der auch nicht dabey denken will, was Ludwig wollte — Aber Geiſt der Kuͤn- ſte an ihnen geuͤbt iſt blieben. Die For- ſchungen der Kraut- und Muͤnz- und Edel- ſtein- und Waſſerwaage- und Meſſungsrei- ſen bleiben, wenn alles verfallen iſt, was dar- an Theil hatt’ und was dadurch litt’ und wo- zu es ſollte! die Zukunft ſtreift uns unſre Schlaube ab und nimmt den Kern. Der kleine Zweig hat nichts davon, aber an ihm hangen die lieblichen Fruͤchte. Wie nun? wenn einſt alle das Licht, das wir in die Welt ſaͤen, womit wir jetzt viel Augen blenden, viel elend machen und verfinſtern, allenthalben gemaͤßigt Lebenslicht und Lebens- waͤrme wuͤrde — die Maſſe von todten aber hellen Kenntniſſen, das Feld voll Beine, was auf- um- und unter uns liegt, wurde — wo-

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/172>, abgerufen am 25.11.2024.