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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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und wie Wahn entflohen -- welcher Unmün-
dige sollte sie annehmen? welcher zu bald wie-
der Unmündige sie anzunehmen zwingen? Es
zerfielen also die ersten Bande der Menschheit
im Ursprung oder vielmehr damals so dünne
kurze Fäden, wie hätten sie je die starke Bande
werden können, ohne die selbst nach Jahrtau-
senden der Bildung das menschliche Geschlecht
durch bloße Schwächung noch immer zer-
fällt? -- Nein! mit frohem Schauer stehe
ich dort vor der heiligen Ceder eines Stamm-
vaters der Welt! Ringsum schon hundert
jungo blühende Bäume, ein schöner Wald der
Nachwelt und Verewigung! aber siehe! die
alte Ceder blüht noch fort, hat ihre Wurzeln
weit umher und trägt den ganzen jungen Wald
mit Saft und Kraft aus der Wurzel. Wo
der Altvater auch seine Kenntnisse, Neigun-
gen, und Sitten her habe? was und wie we-
nig diese auch seyn mögen? ringsum hat sich
schon eine Welt und Nachwelt zu diesen Nei-
gungen und Sitten, blos durch die stille, kräf-
tige, ewige Anschauung seines Gottesbey-
spiels
gebildet und vestgebildet! zwey Jahrtau-
sende waren nur zwo Generationen.



Jn-
A 4



und wie Wahn entflohen — welcher Unmuͤn-
dige ſollte ſie annehmen? welcher zu bald wie-
der Unmuͤndige ſie anzunehmen zwingen? Es
zerfielen alſo die erſten Bande der Menſchheit
im Urſprung oder vielmehr damals ſo duͤnne
kurze Faͤden, wie haͤtten ſie je die ſtarke Bande
werden koͤnnen, ohne die ſelbſt nach Jahrtau-
ſenden der Bildung das menſchliche Geſchlecht
durch bloße Schwaͤchung noch immer zer-
faͤllt? — Nein! mit frohem Schauer ſtehe
ich dort vor der heiligen Ceder eines Stamm-
vaters der Welt! Ringsum ſchon hundert
jungo bluͤhende Baͤume, ein ſchoͤner Wald der
Nachwelt und Verewigung! aber ſiehe! die
alte Ceder bluͤht noch fort, hat ihre Wurzeln
weit umher und traͤgt den ganzen jungen Wald
mit Saft und Kraft aus der Wurzel. Wo
der Altvater auch ſeine Kenntniſſe, Neigun-
gen, und Sitten her habe? was und wie we-
nig dieſe auch ſeyn moͤgen? ringsum hat ſich
ſchon eine Welt und Nachwelt zu dieſen Nei-
gungen und Sitten, blos durch die ſtille, kraͤf-
tige, ewige Anſchauung ſeines Gottesbey-
ſpiels
gebildet und veſtgebildet! zwey Jahrtau-
ſende waren nur zwo Generationen.



Jn-
A 4
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[7/0011] und wie Wahn entflohen — welcher Unmuͤn- dige ſollte ſie annehmen? welcher zu bald wie- der Unmuͤndige ſie anzunehmen zwingen? Es zerfielen alſo die erſten Bande der Menſchheit im Urſprung oder vielmehr damals ſo duͤnne kurze Faͤden, wie haͤtten ſie je die ſtarke Bande werden koͤnnen, ohne die ſelbſt nach Jahrtau- ſenden der Bildung das menſchliche Geſchlecht durch bloße Schwaͤchung noch immer zer- faͤllt? — Nein! mit frohem Schauer ſtehe ich dort vor der heiligen Ceder eines Stamm- vaters der Welt! Ringsum ſchon hundert jungo bluͤhende Baͤume, ein ſchoͤner Wald der Nachwelt und Verewigung! aber ſiehe! die alte Ceder bluͤht noch fort, hat ihre Wurzeln weit umher und traͤgt den ganzen jungen Wald mit Saft und Kraft aus der Wurzel. Wo der Altvater auch ſeine Kenntniſſe, Neigun- gen, und Sitten her habe? was und wie we- nig dieſe auch ſeyn moͤgen? ringsum hat ſich ſchon eine Welt und Nachwelt zu dieſen Nei- gungen und Sitten, blos durch die ſtille, kraͤf- tige, ewige Anſchauung ſeines Gottesbey- ſpiels gebildet und veſtgebildet! zwey Jahrtau- ſende waren nur zwo Generationen. Jn- A 4

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/11>, abgerufen am 24.11.2024.