in ihr abgetrennet. Freilich bleiben es im- mer zwo verschiedne, und ich dörfte fast sa- gen, einander entgegengesetzte Seiten: leb- haft empfinden, und deutlich denken: an- schauend erkennen, und abstrakte Jdeen bil- den; sinnlich unterscheiden, und das Merk- maal des Unterschiedes vernünftig wahrneh- men; hierinn hat D. dem Verf. des Ver- suchs über das Genie seine Lücke, wie mich däucht, sehr wahr gezeiget. Da aber eine jede Menschenseele diese beide Fähigkeiten, ge- meinschaftlich, wiewohl nicht in gleichem Maaß und Ebenmaaß, ausgebildet: so kön- nen unsre anschauende Kräfte, in diesem Zu- stande der dichterischen Empfindungen, von der Vernunft gewisse Wahrheiten und Ge- genstände borgen, sie auf eine Zeitlang als Geschöpfe ihrer Art behandeln, daß es fast schiene, daß sie mit der Vernunft empfänden. Allein, diese kleinen Umtauschungen verrücken nie dem Philosophen die Gränzen, ob das Genie gleich diese ganz und gar niederreißt. Es ist für mich eben so unbegreiflich: daß eine menschliche Seele mit dem Verstande
empfin-
in ihr abgetrennet. Freilich bleiben es im- mer zwo verſchiedne, und ich doͤrfte faſt ſa- gen, einander entgegengeſetzte Seiten: leb- haft empfinden, und deutlich denken: an- ſchauend erkennen, und abſtrakte Jdeen bil- den; ſinnlich unterſcheiden, und das Merk- maal des Unterſchiedes vernuͤnftig wahrneh- men; hierinn hat D. dem Verf. des Ver- ſuchs uͤber das Genie ſeine Luͤcke, wie mich daͤucht, ſehr wahr gezeiget. Da aber eine jede Menſchenſeele dieſe beide Faͤhigkeiten, ge- meinſchaftlich, wiewohl nicht in gleichem Maaß und Ebenmaaß, ausgebildet: ſo koͤn- nen unſre anſchauende Kraͤfte, in dieſem Zu- ſtande der dichteriſchen Empfindungen, von der Vernunft gewiſſe Wahrheiten und Ge- genſtaͤnde borgen, ſie auf eine Zeitlang als Geſchoͤpfe ihrer Art behandeln, daß es faſt ſchiene, daß ſie mit der Vernunft empfaͤnden. Allein, dieſe kleinen Umtauſchungen verruͤcken nie dem Philoſophen die Graͤnzen, ob das Genie gleich dieſe ganz und gar niederreißt. Es iſt fuͤr mich eben ſo unbegreiflich: daß eine menſchliche Seele mit dem Verſtande
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in ihr abgetrennet. Freilich bleiben es im-
mer zwo verſchiedne, und ich doͤrfte faſt ſa-
gen, einander entgegengeſetzte Seiten: leb-
haft empfinden, und deutlich denken: an-
ſchauend erkennen, und abſtrakte Jdeen bil-
den; ſinnlich unterſcheiden, und das Merk-
maal des Unterſchiedes vernuͤnftig wahrneh-
men; hierinn hat D. dem Verf. des Ver-
ſuchs uͤber das Genie ſeine Luͤcke, wie mich
daͤucht, ſehr wahr gezeiget. Da aber eine
jede Menſchenſeele dieſe beide Faͤhigkeiten, ge-
meinſchaftlich, wiewohl nicht in gleichem
Maaß und Ebenmaaß, ausgebildet: ſo koͤn-
nen unſre anſchauende Kraͤfte, in dieſem Zu-
ſtande der dichteriſchen Empfindungen, von
der Vernunft gewiſſe Wahrheiten und Ge-
genſtaͤnde borgen, ſie auf eine Zeitlang als
Geſchoͤpfe ihrer Art behandeln, daß es faſt
ſchiene, daß ſie mit der Vernunft empfaͤnden.
Allein, dieſe kleinen Umtauſchungen verruͤcken
nie dem Philoſophen die Graͤnzen, ob das
Genie gleich dieſe ganz und gar niederreißt.
Es iſt fuͤr mich eben ſo unbegreiflich: daß
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/326>, abgerufen am 21.11.2024.
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