Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

in seine Sprache nur einige lebhafte und rüh-
rende Nuancen der Empfindung hineinkäm-
pfen kann: und der geistliche Liederdichter
ist ohne Bedenken bei mir der größeste, der
"ein Lieblingsdichter aller alten Weiber"
ist. Der spottende Kunstrichter denkt da-
mit K. herunter zu sezzen *: ich aber beklage
ihn, daß er diese Stufe nicht erreicht, und
ich wünsche sie ihm vor andern kältern Lie-
derdichtern gewiß zum voraus.

Aber kann man auch in diesem Taumel
von Empfindungen neue Wahrheiten ha-
schen? Neue, wirklich neue philosophische
Wahrheiten?
Nein! und Klopstock ist ein
Schwärmer, wenn er eine einzige dieser sich
hervordrängenden Gedanken in die Reihe
der Wahrheiten sezzt, die die natürliche und
geoffenbarte Theologie von Gott lehret.
Aber das wird K. bei seinem unvorsichtigen
Ansdruck: Wahrheiten, nicht haben sagen
wollen: denn man weiß ja, was einem dich-
terischen Kopf Wahrheit ist: poetisch wahr-
scheinliche Vermuthungen, sinnlich lebhafte

Vor-
* Litt. Br. Th. 6. p. 377.

in ſeine Sprache nur einige lebhafte und ruͤh-
rende Nuancen der Empfindung hineinkaͤm-
pfen kann: und der geiſtliche Liederdichter
iſt ohne Bedenken bei mir der groͤßeſte, der
ein Lieblingsdichter aller alten Weiber
iſt. Der ſpottende Kunſtrichter denkt da-
mit K. herunter zu ſezzen *: ich aber beklage
ihn, daß er dieſe Stufe nicht erreicht, und
ich wuͤnſche ſie ihm vor andern kaͤltern Lie-
derdichtern gewiß zum voraus.

Aber kann man auch in dieſem Taumel
von Empfindungen neue Wahrheiten ha-
ſchen? Neue, wirklich neue philoſophiſche
Wahrheiten?
Nein! und Klopſtock iſt ein
Schwaͤrmer, wenn er eine einzige dieſer ſich
hervordraͤngenden Gedanken in die Reihe
der Wahrheiten ſezzt, die die natuͤrliche und
geoffenbarte Theologie von Gott lehret.
Aber das wird K. bei ſeinem unvorſichtigen
Ansdruck: Wahrheiten, nicht haben ſagen
wollen: denn man weiß ja, was einem dich-
teriſchen Kopf Wahrheit iſt: poetiſch wahr-
ſcheinliche Vermuthungen, ſinnlich lebhafte

Vor-
* Litt. Br. Th. 6. p. 377.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0322" n="314"/>
in &#x017F;eine Sprache nur einige lebhafte und ru&#x0364;h-<lb/>
rende Nuancen der Empfindung hineinka&#x0364;m-<lb/>
pfen kann: und <hi rendition="#fr">der</hi> gei&#x017F;tliche Liederdichter<lb/>
i&#x017F;t ohne Bedenken bei mir der <hi rendition="#fr">gro&#x0364;ße&#x017F;te,</hi> der<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#fr">ein Lieblingsdichter aller alten Weiber</hi>&#x201E;<lb/>
i&#x017F;t. Der &#x017F;pottende Kun&#x017F;trichter denkt da-<lb/>
mit K. herunter zu &#x017F;ezzen <note place="foot" n="*">Litt. Br. Th. 6. p. 377.</note>: ich aber beklage<lb/>
ihn, daß er die&#x017F;e Stufe nicht erreicht, und<lb/>
ich wu&#x0364;n&#x017F;che &#x017F;ie ihm vor andern <hi rendition="#fr">ka&#x0364;ltern</hi> Lie-<lb/>
derdichtern gewiß zum voraus.</p><lb/>
                <p>Aber kann man auch in die&#x017F;em Taumel<lb/>
von Empfindungen <hi rendition="#fr">neue Wahrheiten</hi> ha-<lb/>
&#x017F;chen? <hi rendition="#fr">Neue,</hi> wirklich <hi rendition="#fr">neue philo&#x017F;ophi&#x017F;che<lb/>
Wahrheiten?</hi> Nein! und Klop&#x017F;tock i&#x017F;t ein<lb/>
Schwa&#x0364;rmer, wenn er eine einzige die&#x017F;er &#x017F;ich<lb/>
hervordra&#x0364;ngenden <hi rendition="#fr">Gedanken</hi> in die Reihe<lb/>
der Wahrheiten &#x017F;ezzt, die die natu&#x0364;rliche und<lb/>
geoffenbarte Theologie von Gott lehret.<lb/>
Aber das wird K. bei &#x017F;einem unvor&#x017F;ichtigen<lb/>
Ansdruck: <hi rendition="#fr">Wahrheiten,</hi> nicht haben &#x017F;agen<lb/>
wollen: denn man weiß ja, was einem dich-<lb/>
teri&#x017F;chen Kopf <hi rendition="#fr">Wahrheit</hi> i&#x017F;t: poeti&#x017F;ch wahr-<lb/>
&#x017F;cheinliche Vermuthungen, &#x017F;innlich lebhafte<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Vor-</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[314/0322] in ſeine Sprache nur einige lebhafte und ruͤh- rende Nuancen der Empfindung hineinkaͤm- pfen kann: und der geiſtliche Liederdichter iſt ohne Bedenken bei mir der groͤßeſte, der „ein Lieblingsdichter aller alten Weiber„ iſt. Der ſpottende Kunſtrichter denkt da- mit K. herunter zu ſezzen *: ich aber beklage ihn, daß er dieſe Stufe nicht erreicht, und ich wuͤnſche ſie ihm vor andern kaͤltern Lie- derdichtern gewiß zum voraus. Aber kann man auch in dieſem Taumel von Empfindungen neue Wahrheiten ha- ſchen? Neue, wirklich neue philoſophiſche Wahrheiten? Nein! und Klopſtock iſt ein Schwaͤrmer, wenn er eine einzige dieſer ſich hervordraͤngenden Gedanken in die Reihe der Wahrheiten ſezzt, die die natuͤrliche und geoffenbarte Theologie von Gott lehret. Aber das wird K. bei ſeinem unvorſichtigen Ansdruck: Wahrheiten, nicht haben ſagen wollen: denn man weiß ja, was einem dich- teriſchen Kopf Wahrheit iſt: poetiſch wahr- ſcheinliche Vermuthungen, ſinnlich lebhafte Vor- * Litt. Br. Th. 6. p. 377.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/322
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/322>, abgerufen am 21.11.2024.