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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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das zweite hat er mannichmal verfehlt; aber
das bleibt immer, daß einige Sticke aus sei-
nem Meßias, einige seiner prosaischen Oden,
und einige seiner Lieder, gleichsam lebende
Ausdrücke
dieser weichen, menschlichen,
christlichen, dichterischen Einbildungskraft
sind. Jch sage mit dem Wort, lebende Aus-
drücke,
so viel, als ich sagen kann; nur man
muß als Mensch, als Christ, als Dichter,
nicht aber als ein genauer Philosoph und
ekler Kunstrichter lesen: sonst nimmt man kei-
ne dieser Nuancen wahr, und empfindet da
wenig oder nichts, wo der andre viel empfin-
det. Freilich ists bei dieser Gattung des
poetischen Ausdrucks wahr: niemand empfin-
det so viel dabei, als der Dichter, da ers
dachte; selbst er, empfindet nicht völlig mehr
so viel, wenn er es lieset; und ein fremder
Leser mit einem andern Ton der Seele viel-
leicht noch minder. Allein, da die Sprache
eigentlich gar kein Ausdruck der Empfin-
dung,
sondern mehr der Begriffe ist: so
schreibe ich auf meine kleine Scherbe willig
auf: omne tulit punctum! wenn ein Poet

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das zweite hat er mannichmal verfehlt; aber
das bleibt immer, daß einige Sticke aus ſei-
nem Meßias, einige ſeiner proſaiſchen Oden,
und einige ſeiner Lieder, gleichſam lebende
Ausdruͤcke
dieſer weichen, menſchlichen,
chriſtlichen, dichteriſchen Einbildungskraft
ſind. Jch ſage mit dem Wort, lebende Aus-
druͤcke,
ſo viel, als ich ſagen kann; nur man
muß als Menſch, als Chriſt, als Dichter,
nicht aber als ein genauer Philoſoph und
ekler Kunſtrichter leſen: ſonſt nimmt man kei-
ne dieſer Nuancen wahr, und empfindet da
wenig oder nichts, wo der andre viel empfin-
det. Freilich iſts bei dieſer Gattung des
poetiſchen Ausdrucks wahr: niemand empfin-
det ſo viel dabei, als der Dichter, da ers
dachte; ſelbſt er, empfindet nicht voͤllig mehr
ſo viel, wenn er es lieſet; und ein fremder
Leſer mit einem andern Ton der Seele viel-
leicht noch minder. Allein, da die Sprache
eigentlich gar kein Ausdruck der Empfin-
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ſondern mehr der Begriffe iſt: ſo
ſchreibe ich auf meine kleine Scherbe willig
auf: omne tulit punctum! wenn ein Poet

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[313/0321] das zweite hat er mannichmal verfehlt; aber das bleibt immer, daß einige Sticke aus ſei- nem Meßias, einige ſeiner proſaiſchen Oden, und einige ſeiner Lieder, gleichſam lebende Ausdruͤcke dieſer weichen, menſchlichen, chriſtlichen, dichteriſchen Einbildungskraft ſind. Jch ſage mit dem Wort, lebende Aus- druͤcke, ſo viel, als ich ſagen kann; nur man muß als Menſch, als Chriſt, als Dichter, nicht aber als ein genauer Philoſoph und ekler Kunſtrichter leſen: ſonſt nimmt man kei- ne dieſer Nuancen wahr, und empfindet da wenig oder nichts, wo der andre viel empfin- det. Freilich iſts bei dieſer Gattung des poetiſchen Ausdrucks wahr: niemand empfin- det ſo viel dabei, als der Dichter, da ers dachte; ſelbſt er, empfindet nicht voͤllig mehr ſo viel, wenn er es lieſet; und ein fremder Leſer mit einem andern Ton der Seele viel- leicht noch minder. Allein, da die Sprache eigentlich gar kein Ausdruck der Empfin- dung, ſondern mehr der Begriffe iſt: ſo ſchreibe ich auf meine kleine Scherbe willig auf: omne tulit punctum! wenn ein Poet in U 5

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/321>, abgerufen am 04.05.2024.