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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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"die übrigen, aber nicht eben so leicht, nicht
"eben so stark *. Freude, Traurigkeit,
"Liebe, Haß, Bewundrung
kann der Kan-
"zelredner erregen, aber nur in einem gewis-
"sen Grade. Ja, die ersten werden vielmehr
"vermischte Empfindungen, und die letztere
"verliert sich in stille Anbetung. Steigt er
"über jenen Grad: so entgehen ihm die See-
"len ganz aus den Händen, überlassen sich ih-
"ren ruhigen Empfindungen, und der übrige
"Theil seiner Rede ist verloren. Ja, je öfter
"einerlei Bild vorgebracht wird: desto schwe-
"rer fällt es, die ihm zusagende Leidenschaft
"zu erwecken. Wie weit kann es also der
"geistliche Redner bringen? O wahrhaftig!
"Cicero könnte wohl vielleicht der beste Kan-
"zelredner unter uns seyn; aber ein Cicero
"würde er nicht seyn. Ja, wenn Cicero un-
"ter uns wäre erzogen worden: hundert ge-
"gen eins, nach seiner herrschenden Neigung

"der
* Wenn der politische Redner kein Akteur an
Rührung seyn kann, so muß es der geistliche
noch weniger seyn, wenn er nicht alle Zwecke
verfehlen will: -- Doch alles dies würde theo-
logisch!

„die uͤbrigen, aber nicht eben ſo leicht, nicht
„eben ſo ſtark *. Freude, Traurigkeit,
„Liebe, Haß, Bewundrung
kann der Kan-
„zelredner erregen, aber nur in einem gewiſ-
„ſen Grade. Ja, die erſten werden vielmehr
vermiſchte Empfindungen, und die letztere
„verliert ſich in ſtille Anbetung. Steigt er
„uͤber jenen Grad: ſo entgehen ihm die See-
„len ganz aus den Haͤnden, uͤberlaſſen ſich ih-
„ren ruhigen Empfindungen, und der uͤbrige
„Theil ſeiner Rede iſt verloren. Ja, je oͤfter
„einerlei Bild vorgebracht wird: deſto ſchwe-
„rer faͤllt es, die ihm zuſagende Leidenſchaft
„zu erwecken. Wie weit kann es alſo der
„geiſtliche Redner bringen? O wahrhaftig!
„Cicero koͤnnte wohl vielleicht der beſte Kan-
„zelredner unter uns ſeyn; aber ein Cicero
„wuͤrde er nicht ſeyn. Ja, wenn Cicero un-
„ter uns waͤre erzogen worden: hundert ge-
„gen eins, nach ſeiner herrſchenden Neigung

„der
* Wenn der politiſche Redner kein Akteur an
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[272/0280] „die uͤbrigen, aber nicht eben ſo leicht, nicht „eben ſo ſtark *. Freude, Traurigkeit, „Liebe, Haß, Bewundrung kann der Kan- „zelredner erregen, aber nur in einem gewiſ- „ſen Grade. Ja, die erſten werden vielmehr „vermiſchte Empfindungen, und die letztere „verliert ſich in ſtille Anbetung. Steigt er „uͤber jenen Grad: ſo entgehen ihm die See- „len ganz aus den Haͤnden, uͤberlaſſen ſich ih- „ren ruhigen Empfindungen, und der uͤbrige „Theil ſeiner Rede iſt verloren. Ja, je oͤfter „einerlei Bild vorgebracht wird: deſto ſchwe- „rer faͤllt es, die ihm zuſagende Leidenſchaft „zu erwecken. Wie weit kann es alſo der „geiſtliche Redner bringen? O wahrhaftig! „Cicero koͤnnte wohl vielleicht der beſte Kan- „zelredner unter uns ſeyn; aber ein Cicero „wuͤrde er nicht ſeyn. Ja, wenn Cicero un- „ter uns waͤre erzogen worden: hundert ge- „gen eins, nach ſeiner herrſchenden Neigung „der * Wenn der politiſche Redner kein Akteur an Ruͤhrung ſeyn kann, ſo muß es der geiſtliche noch weniger ſeyn, wenn er nicht alle Zwecke verfehlen will: — Doch alles dies wuͤrde theo- logiſch!

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/280>, abgerufen am 22.11.2024.