Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.aus der Betrachtung unsres eignen Zustan- Ein- Umständen sich von dem Elegischklagenden auf das Schreckhastrührende zu weit eingelassen. So sehr die Empfindungen von Mitleiden, Schrecken, Zorn, Furcht u. s. w. in einander zusammen fliessen: so muß doch in der Elegie das sanfte Gefühl, nicht aber Schauder der herrschende Ton seyn. Jndessen als Vorberei- tung und Nebensache betrachtet: hilft eins dem andern, und ich bin dem Verfasser auf seinem Spatziergange unbekümmert nachge- schlichen. * Dies ist die Residenz der Elegie, und alles
vorige wird blos dadurch das Gebiet der Elegie: so fern es sich unserm Selbst nähert, so fern wir Antheil daran nehmen. Fehlt diese Beziehung auf uns selbst: so kann die Elegie ein schönes Exercitium stili werden; aber nie ein Meisterstück. Und hat man nicht Elegien gnug, die offenbar in fremden Namen sind? -- Du darfst nicht rathen, mein Leser! siehe die Heldenbriefe an, die Ovid in Gang gebracht: ein Dichter, der in mehr als einer Absicht mit der Poesie gespielt hat. Betrachte diese Heroiden als rührende Situationen: so sind sie eine dramatische Uebung, die für junge Dichter nützlich seyn können: aber höher stelle sie aus der Betrachtung unſres eignen Zuſtan- Ein- Umſtaͤnden ſich von dem Elegiſchklagenden auf das Schreckhaſtruͤhrende zu weit eingelaſſen. So ſehr die Empfindungen von Mitleiden, Schrecken, Zorn, Furcht u. ſ. w. in einander zuſammen flieſſen: ſo muß doch in der Elegie das ſanfte Gefuͤhl, nicht aber Schauder der herrſchende Ton ſeyn. Jndeſſen als Vorberei- tung und Nebenſache betrachtet: hilft eins dem andern, und ich bin dem Verfaſſer auf ſeinem Spatziergange unbekuͤmmert nachge- ſchlichen. * Dies iſt die Reſidenz der Elegie, und alles
vorige wird blos dadurch das Gebiet der Elegie: ſo fern es ſich unſerm Selbſt naͤhert, ſo fern wir Antheil daran nehmen. Fehlt dieſe Beziehung auf uns ſelbſt: ſo kann die Elegie ein ſchoͤnes Exercitium ſtili werden; aber nie ein Meiſterſtuͤck. Und hat man nicht Elegien gnug, die offenbar in fremden Namen ſind? — Du darfſt nicht rathen, mein Leſer! ſiehe die Heldenbriefe an, die Ovid in Gang gebracht: ein Dichter, der in mehr als einer Abſicht mit der Poeſie geſpielt hat. Betrachte dieſe Heroiden als ruͤhrende Situationen: ſo ſind ſie eine dramatiſche Uebung, die fuͤr junge Dichter nuͤtzlich ſeyn koͤnnen: aber hoͤher ſtelle ſie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0248" n="240"/> aus der Betrachtung <hi rendition="#fr">unſres eignen Zuſtan-<lb/> des</hi> <note xml:id="seg2pn_18_1" next="#seg2pn_18_2" place="foot" n="*">Dies iſt die Reſidenz der Elegie, und alles<lb/> vorige wird blos dadurch das Gebiet der Elegie:<lb/> ſo fern es ſich unſerm Selbſt naͤhert, ſo fern<lb/> wir <hi rendition="#fr">Antheil daran</hi> nehmen. Fehlt dieſe<lb/> Beziehung auf uns ſelbſt: ſo kann die Elegie<lb/> ein ſchoͤnes <hi rendition="#aq">Exercitium ſtili</hi> werden; aber nie<lb/> ein Meiſterſtuͤck. Und hat man nicht Elegien<lb/> gnug, die offenbar in <hi rendition="#fr">fremden Namen</hi><lb/> ſind? — Du darfſt nicht rathen, mein Leſer!<lb/> ſiehe die Heldenbriefe an, die Ovid in Gang<lb/> gebracht: ein Dichter, der in mehr als einer<lb/> Abſicht mit der Poeſie geſpielt hat. Betrachte<lb/> dieſe Heroiden als ruͤhrende Situationen: ſo<lb/> ſind ſie eine dramatiſche Uebung, die fuͤr junge<lb/> Dichter nuͤtzlich ſeyn koͤnnen: aber hoͤher ſtelle<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſie</fw></note> entſtehen. Natuͤrliches oder von der<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Ein-</fw><lb/><note xml:id="seg2pn_17_2" prev="#seg2pn_17_1" place="foot" n="*">Umſtaͤnden ſich von dem Elegiſchklagenden auf<lb/> das Schreckhaſtruͤhrende zu weit eingelaſſen.<lb/> So ſehr die Empfindungen von Mitleiden,<lb/> Schrecken, Zorn, Furcht u. ſ. w. in einander<lb/> zuſammen flieſſen: ſo muß doch in der Elegie<lb/> das ſanfte Gefuͤhl, nicht aber Schauder der<lb/> herrſchende Ton ſeyn. Jndeſſen als Vorberei-<lb/> tung und Nebenſache betrachtet: hilft eins<lb/> dem andern, und ich bin dem Verfaſſer auf<lb/> ſeinem Spatziergange unbekuͤmmert nachge-<lb/> ſchlichen.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [240/0248]
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des * entſtehen. Natuͤrliches oder von der
Ein-
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* Dies iſt die Reſidenz der Elegie, und alles
vorige wird blos dadurch das Gebiet der Elegie:
ſo fern es ſich unſerm Selbſt naͤhert, ſo fern
wir Antheil daran nehmen. Fehlt dieſe
Beziehung auf uns ſelbſt: ſo kann die Elegie
ein ſchoͤnes Exercitium ſtili werden; aber nie
ein Meiſterſtuͤck. Und hat man nicht Elegien
gnug, die offenbar in fremden Namen
ſind? — Du darfſt nicht rathen, mein Leſer!
ſiehe die Heldenbriefe an, die Ovid in Gang
gebracht: ein Dichter, der in mehr als einer
Abſicht mit der Poeſie geſpielt hat. Betrachte
dieſe Heroiden als ruͤhrende Situationen: ſo
ſind ſie eine dramatiſche Uebung, die fuͤr junge
Dichter nuͤtzlich ſeyn koͤnnen: aber hoͤher ſtelle
ſie
* Umſtaͤnden ſich von dem Elegiſchklagenden auf
das Schreckhaſtruͤhrende zu weit eingelaſſen.
So ſehr die Empfindungen von Mitleiden,
Schrecken, Zorn, Furcht u. ſ. w. in einander
zuſammen flieſſen: ſo muß doch in der Elegie
das ſanfte Gefuͤhl, nicht aber Schauder der
herrſchende Ton ſeyn. Jndeſſen als Vorberei-
tung und Nebenſache betrachtet: hilft eins
dem andern, und ich bin dem Verfaſſer auf
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Zitationshilfe: | Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/248>, abgerufen am 18.07.2024. |