Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.sonst ein Volk, für welches wir besonders Zeit muß wahrhastig mehr als elegisch seyn, der von mir Klagen über das allgemeine Elend erpreßt, der es mich als Unglück fühlen läßt, daß ich ein Mensch und der Mitbürger in einem Thale voll Thränen bin. Daher ist diese Elegie selten; aber nicht unmöglich, wenn ich einen mittlern Standpunkt annehme, wo mich nicht mein Unglück über den allgemei- nen Jammer klagen lehrt; noch auch meine Betrachtung stoische Aussicht ist, und dieser Standpunkt ist -- das Unglück anderer. So kann bei der Wiege eines Neugebohrnen, und an dem Sarge eines Junggestorbnen eine Ele- gie angestimmt werden, wie ohngefähr das Geburtslied und Grablied unsres Kleists ist: so kann vor dem Anblick eines Hospitals voll Armen, und Abgelebten, eines Schlachtfeldes voller Leichen und Sterbenden, eines Lazare- thes voller Kranken etc. eine Elegie Thränen weinen, die die Ehre der Menschlichkeit sind. P 4
ſonſt ein Volk, fuͤr welches wir beſonders Zeit muß wahrhaſtig mehr als elegiſch ſeyn, der von mir Klagen uͤber das allgemeine Elend erpreßt, der es mich als Ungluͤck fuͤhlen laͤßt, daß ich ein Menſch und der Mitbuͤrger in einem Thale voll Thraͤnen bin. Daher iſt dieſe Elegie ſelten; aber nicht unmoͤglich, wenn ich einen mittlern Standpunkt annehme, wo mich nicht mein Ungluͤck uͤber den allgemei- nen Jammer klagen lehrt; noch auch meine Betrachtung ſtoiſche Ausſicht iſt, und dieſer Standpunkt iſt — das Ungluͤck anderer. So kann bei der Wiege eines Neugebohrnen, und an dem Sarge eines Junggeſtorbnen eine Ele- gie angeſtimmt werden, wie ohngefaͤhr das Geburtslied und Grablied unſres Kleiſts iſt: ſo kann vor dem Anblick eines Hoſpitals voll Armen, und Abgelebten, eines Schlachtfeldes voller Leichen und Sterbenden, eines Lazare- thes voller Kranken ꝛc. eine Elegie Thraͤnen weinen, die die Ehre der Menſchlichkeit ſind. P 4
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ſonſt ein Volk, fuͤr welches wir beſonders
eingenommen ſind. Wenn alſo ein Krieg
das Vaterland verwuͤſtet, die Wuth der
Feinde eine Vaterſtadt in die Aſche legt; Laͤn-
der, wo die Muſen ſonſt gewohnt haben, durch
Barbarei entheiligt ſind: ſo koͤnnen derglei-
chen Empfindungen entſtehen; nur muß die
Zeit
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* muß wahrhaſtig mehr als elegiſch ſeyn, der
von mir Klagen uͤber das allgemeine Elend
erpreßt, der es mich als Ungluͤck fuͤhlen laͤßt,
daß ich ein Menſch und der Mitbuͤrger in
einem Thale voll Thraͤnen bin. Daher iſt
dieſe Elegie ſelten; aber nicht unmoͤglich, wenn
ich einen mittlern Standpunkt annehme, wo
mich nicht mein Ungluͤck uͤber den allgemei-
nen Jammer klagen lehrt; noch auch meine
Betrachtung ſtoiſche Ausſicht iſt, und dieſer
Standpunkt iſt — das Ungluͤck anderer. So
kann bei der Wiege eines Neugebohrnen, und
an dem Sarge eines Junggeſtorbnen eine Ele-
gie angeſtimmt werden, wie ohngefaͤhr das
Geburtslied und Grablied unſres Kleiſts iſt:
ſo kann vor dem Anblick eines Hoſpitals voll
Armen, und Abgelebten, eines Schlachtfeldes
voller Leichen und Sterbenden, eines Lazare-
thes voller Kranken ꝛc. eine Elegie Thraͤnen
weinen, die die Ehre der Menſchlichkeit ſind.
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