"sie die Systeme der Weltweisen vortragen, "wenn sie sich in die Höhen des Unermäßli- "chen emporschwingen, wenn sie den Schö- "pfer und seine Werke besingen; hingegen "sinken sie unter das Mittelmäßige, so bald "sie sich zu den Sitten der Menschen herab- "lassen. Popens Essay on man möchte man "einem Deutschen weit eher zutrauen, als ei- "nem Franzosen; aber seine Moral Essays "verrathen eine so feine Känntniß des mensch- "lichen Herzens, als noch nie ein deutscher "Schriftsteller gezeigt." -- Diese beide ganz wahre Bemerkungen machen, daß ich den deutschen Dichtern die philosophische Dich- tungsart des Lukrez, als ein glückliches und reizendes Feld anpreise: doch mit einiger Ein- schränkung. -- Lukrez ist in meinen Augen nach dem Feuer seiner Bilder einer der ersten Genies unter den Römern. Wenn man die trockne Philosophie sieht, mit der er kämpfen mußte, die Schwierigkeiten, mit denen er stritte -- -- propter egestatem linguae ac rerum nouitatem -- -- und die er doch überwand, die Strenge, mit der er seiner Schule gnug thut, und die herrlichen Gemälde
und
„ſie die Syſteme der Weltweiſen vortragen, „wenn ſie ſich in die Hoͤhen des Unermaͤßli- „chen emporſchwingen, wenn ſie den Schoͤ- „pfer und ſeine Werke beſingen; hingegen „ſinken ſie unter das Mittelmaͤßige, ſo bald „ſie ſich zu den Sitten der Menſchen herab- „laſſen. Popens Eſſay on man moͤchte man „einem Deutſchen weit eher zutrauen, als ei- „nem Franzoſen; aber ſeine Moral Eſſays „verrathen eine ſo feine Kaͤnntniß des menſch- „lichen Herzens, als noch nie ein deutſcher „Schriftſteller gezeigt.„ — Dieſe beide ganz wahre Bemerkungen machen, daß ich den deutſchen Dichtern die philoſophiſche Dich- tungsart des Lukrez, als ein gluͤckliches und reizendes Feld anpreiſe: doch mit einiger Ein- ſchraͤnkung. — Lukrez iſt in meinen Augen nach dem Feuer ſeiner Bilder einer der erſten Genies unter den Roͤmern. Wenn man die trockne Philoſophie ſieht, mit der er kaͤmpfen mußte, die Schwierigkeiten, mit denen er ſtritte — — propter egeſtatem linguae ac rerum nouitatem — — und die er doch uͤberwand, die Strenge, mit der er ſeiner Schule gnug thut, und die herrlichen Gemaͤlde
und
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„ſie die Syſteme der Weltweiſen vortragen,
„wenn ſie ſich in die Hoͤhen des Unermaͤßli-
„chen emporſchwingen, wenn ſie den Schoͤ-
„pfer und ſeine Werke beſingen; hingegen
„ſinken ſie unter das Mittelmaͤßige, ſo bald
„ſie ſich zu den Sitten der Menſchen herab-
„laſſen. Popens Eſſay on man moͤchte man
„einem Deutſchen weit eher zutrauen, als ei-
„nem Franzoſen; aber ſeine Moral Eſſays
„verrathen eine ſo feine Kaͤnntniß des menſch-
„lichen Herzens, als noch nie ein deutſcher
„Schriftſteller gezeigt.„ — Dieſe beide
ganz wahre Bemerkungen machen, daß ich
den deutſchen Dichtern die philoſophiſche Dich-
tungsart des Lukrez, als ein gluͤckliches und
reizendes Feld anpreiſe: doch mit einiger Ein-
ſchraͤnkung. — Lukrez iſt in meinen Augen
nach dem Feuer ſeiner Bilder einer der erſten
Genies unter den Roͤmern. Wenn man die
trockne Philoſophie ſieht, mit der er kaͤmpfen
mußte, die Schwierigkeiten, mit denen er
ſtritte — — propter egeſtatem linguae ac
rerum nouitatem — — und die er doch
uͤberwand, die Strenge, mit der er ſeiner
Schule gnug thut, und die herrlichen Gemaͤlde
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/216>, abgerufen am 24.11.2024.
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