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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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man war selbst nach der Form solcher Denk-
art gebildet: man hätte, wie Archimedes,
einen Punkt außer der Welt haben müssen,
um die ganze Welt zu bewegen.

Ein Vernünftiger geht also zu solchen Be-
trachtungen über das Allgemeine mit einer
Art von Blödigkeit: er gibt seine Aussichten
für nichts als Erscheinungen an: er geber-
det sich nicht wie auf einem Richterthrone in
den Wolken des Himmels; er tritt aber auch
nicht in eine Höhle, um mit knechtischer Be-
wunderung heraufzublicken: sonst können frei-
lich alle seine Beobachtungen, Gesichte eines
verrückten Kopfs scheinen.

Aber er bittet seine Leser, als Freunde, auf
einen benachbarten Hügel: entdeckt ihnen,
was er gewahr wird: befragt sie um das
Urtheil ihrer Augen; sehen sie nicht einerley,
so wird der Weise über diese Verschiedenheit
des Anblicks sich wundern, und das untersu-
chen, woher der Jrrthum komme: aber
schlechthin verlachen, oder für Thoren schel-
ten, das thun nur die, so die Sprache des
Kuckuks lieben. -- Wer je die Wahrheit ei-

ner

man war ſelbſt nach der Form ſolcher Denk-
art gebildet: man haͤtte, wie Archimedes,
einen Punkt außer der Welt haben muͤſſen,
um die ganze Welt zu bewegen.

Ein Vernuͤnftiger geht alſo zu ſolchen Be-
trachtungen uͤber das Allgemeine mit einer
Art von Bloͤdigkeit: er gibt ſeine Ausſichten
fuͤr nichts als Erſcheinungen an: er geber-
det ſich nicht wie auf einem Richterthrone in
den Wolken des Himmels; er tritt aber auch
nicht in eine Hoͤhle, um mit knechtiſcher Be-
wunderung heraufzublicken: ſonſt koͤnnen frei-
lich alle ſeine Beobachtungen, Geſichte eines
verruͤckten Kopfs ſcheinen.

Aber er bittet ſeine Leſer, als Freunde, auf
einen benachbarten Huͤgel: entdeckt ihnen,
was er gewahr wird: befragt ſie um das
Urtheil ihrer Augen; ſehen ſie nicht einerley,
ſo wird der Weiſe uͤber dieſe Verſchiedenheit
des Anblicks ſich wundern, und das unterſu-
chen, woher der Jrrthum komme: aber
ſchlechthin verlachen, oder fuͤr Thoren ſchel-
ten, das thun nur die, ſo die Sprache des
Kuckuks lieben. — Wer je die Wahrheit ei-

ner
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[4/0012] man war ſelbſt nach der Form ſolcher Denk- art gebildet: man haͤtte, wie Archimedes, einen Punkt außer der Welt haben muͤſſen, um die ganze Welt zu bewegen. Ein Vernuͤnftiger geht alſo zu ſolchen Be- trachtungen uͤber das Allgemeine mit einer Art von Bloͤdigkeit: er gibt ſeine Ausſichten fuͤr nichts als Erſcheinungen an: er geber- det ſich nicht wie auf einem Richterthrone in den Wolken des Himmels; er tritt aber auch nicht in eine Hoͤhle, um mit knechtiſcher Be- wunderung heraufzublicken: ſonſt koͤnnen frei- lich alle ſeine Beobachtungen, Geſichte eines verruͤckten Kopfs ſcheinen. Aber er bittet ſeine Leſer, als Freunde, auf einen benachbarten Huͤgel: entdeckt ihnen, was er gewahr wird: befragt ſie um das Urtheil ihrer Augen; ſehen ſie nicht einerley, ſo wird der Weiſe uͤber dieſe Verſchiedenheit des Anblicks ſich wundern, und das unterſu- chen, woher der Jrrthum komme: aber ſchlechthin verlachen, oder fuͤr Thoren ſchel- ten, das thun nur die, ſo die Sprache des Kuckuks lieben. — Wer je die Wahrheit ei- ner

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/12>, abgerufen am 29.03.2024.