Ahmen wir also nach, wie es uns gefällt: so wird vielleicht ein unpartheischer Frem- der, der den Orient kennet, ohne ihn von Jugend auf, blos als ein Erbstück der Reli- gion zu kennen, der Geschmack gnug hat, um unsre Nachahmungen mit jenen Origina- len zu vergleichen, vielleicht folgenden Cha- rakter angeben:
"Die Morgenländischen Werke des Genies "zeichnen sich aus, durch den hohen Ausdruck "einer Einbildung, die Erdichtungen liebt, "Sittensprüche in Figuren, Bilder und Schat- "ten einhüllet, die nicht blos auf Flügeln der "Morgenröthe bis an die Gränzen der Natur "aufschwinget, sondern sich oft über diese "Gränzen wagt, und im Reich des Unnatür- "lichen, aber wunderbaren Chaos umherirret. "Die kältern vernünftigen Deutschen haben "dieser brennenden Phantasie sich nachschwin- "gen wollen, mit Flügeln, die ihnen die Na- "tur nicht gab, wie Horaz vom Dädalus sin- "get: sie zeichnen fremde, oft unverstandne, "und wenigstens zu entfernte Bilder: ihre
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zur Ruͤhrung oft durch den Weg der Ueber- legung.
Ahmen wir alſo nach, wie es uns gefaͤllt: ſo wird vielleicht ein unpartheiſcher Frem- der, der den Orient kennet, ohne ihn von Jugend auf, blos als ein Erbſtuͤck der Reli- gion zu kennen, der Geſchmack gnug hat, um unſre Nachahmungen mit jenen Origina- len zu vergleichen, vielleicht folgenden Cha- rakter angeben:
„Die Morgenlaͤndiſchen Werke des Genies „zeichnen ſich aus, durch den hohen Ausdruck „einer Einbildung, die Erdichtungen liebt, „Sittenſpruͤche in Figuren, Bilder und Schat- „ten einhuͤllet, die nicht blos auf Fluͤgeln der „Morgenroͤthe bis an die Graͤnzen der Natur „aufſchwinget, ſondern ſich oft uͤber dieſe „Graͤnzen wagt, und im Reich des Unnatuͤr- „lichen, aber wunderbaren Chaos umherirret. „Die kaͤltern vernuͤnftigen Deutſchen haben „dieſer brennenden Phantaſie ſich nachſchwin- „gen wollen, mit Fluͤgeln, die ihnen die Na- „tur nicht gab, wie Horaz vom Daͤdalus ſin- „get: ſie zeichnen fremde, oft unverſtandne, „und wenigſtens zu entfernte Bilder: ihre
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zur Ruͤhrung oft durch den Weg der Ueber-
legung.
Ahmen wir alſo nach, wie es uns gefaͤllt:
ſo wird vielleicht ein unpartheiſcher Frem-
der, der den Orient kennet, ohne ihn von
Jugend auf, blos als ein Erbſtuͤck der Reli-
gion zu kennen, der Geſchmack gnug hat,
um unſre Nachahmungen mit jenen Origina-
len zu vergleichen, vielleicht folgenden Cha-
rakter angeben:
„Die Morgenlaͤndiſchen Werke des Genies
„zeichnen ſich aus, durch den hohen Ausdruck
„einer Einbildung, die Erdichtungen liebt,
„Sittenſpruͤche in Figuren, Bilder und Schat-
„ten einhuͤllet, die nicht blos auf Fluͤgeln der
„Morgenroͤthe bis an die Graͤnzen der Natur
„aufſchwinget, ſondern ſich oft uͤber dieſe
„Graͤnzen wagt, und im Reich des Unnatuͤr-
„lichen, aber wunderbaren Chaos umherirret.
„Die kaͤltern vernuͤnftigen Deutſchen haben
„dieſer brennenden Phantaſie ſich nachſchwin-
„gen wollen, mit Fluͤgeln, die ihnen die Na-
„tur nicht gab, wie Horaz vom Daͤdalus ſin-
„get: ſie zeichnen fremde, oft unverſtandne,
„und wenigſtens zu entfernte Bilder: ihre
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/67>, abgerufen am 16.07.2024.
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