Gerippe von Auszügen: statt ein Pygmalion seines Autors zu werden, schlägt er ihm, wie Claudius den Statuen Roms, das Haupt ab, und sezzt das seinige darauf: als ein zweiter Pluto bewacht er altes angeerbtes Geräth, und ehrwürdigen Auskehricht der Litteratur: er eifert in den petites maisons der Gelehr- samkeit gegen elende Uebersezzer: die Brille eines Compendiums oder das Fernglas eines Systems in der Hand, nähert er jezt diese Wahrheit, jezt entfernt er jene, um das Schat- tenspiel seiner Lieblingsbegriffe nur beständig zu erblicken; und eben dies ist ein Kunstrich- ter [n]ach dem gewöhnlichen Geschmack: er wird seinen Lesern so unentbehrlich, als die Zeichen und Wetterprophezeiungen im Kalen- der den Tagewählerinnen sind: er wird gele- sen, gelobt und vergessen: seine Ephemeriden, gleich den Jnsekten dieses Namens, haben ei- ne Woche, einen Monat, eine Messe, ein Jahr zu ihrem Lebenslauf.
Leser! mit dem ich jezt spreche, folge diesen Winken, die nicht Einfälle sondern oft und leider! bei den besten Werken gemachte Beob- achtungen sind. Jch lasse dich los, um die
viele
Gerippe von Auszuͤgen: ſtatt ein Pygmalion ſeines Autors zu werden, ſchlaͤgt er ihm, wie Claudius den Statuen Roms, das Haupt ab, und ſezzt das ſeinige darauf: als ein zweiter Pluto bewacht er altes angeerbtes Geraͤth, und ehrwuͤrdigen Auskehricht der Litteratur: er eifert in den petites maiſons der Gelehr- ſamkeit gegen elende Ueberſezzer: die Brille eines Compendiums oder das Fernglas eines Syſtems in der Hand, naͤhert er jezt dieſe Wahrheit, jezt entfernt er jene, um das Schat- tenſpiel ſeiner Lieblingsbegriffe nur beſtaͤndig zu erblicken; und eben dies iſt ein Kunſtrich- ter [n]ach dem gewoͤhnlichen Geſchmack: er wird ſeinen Leſern ſo unentbehrlich, als die Zeichen und Wetterprophezeiungen im Kalen- der den Tagewaͤhlerinnen ſind: er wird gele- ſen, gelobt und vergeſſen: ſeine Ephemeriden, gleich den Jnſekten dieſes Namens, haben ei- ne Woche, einen Monat, eine Meſſe, ein Jahr zu ihrem Lebenslauf.
Leſer! mit dem ich jezt ſpreche, folge dieſen Winken, die nicht Einfaͤlle ſondern oft und leider! bei den beſten Werken gemachte Beob- achtungen ſind. Jch laſſe dich los, um die
viele
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Gerippe von Auszuͤgen: ſtatt ein Pygmalion
ſeines Autors zu werden, ſchlaͤgt er ihm, wie
Claudius den Statuen Roms, das Haupt ab,
und ſezzt das ſeinige darauf: als ein zweiter
Pluto bewacht er altes angeerbtes Geraͤth,
und ehrwuͤrdigen Auskehricht der Litteratur:
er eifert in den petites maiſons der Gelehr-
ſamkeit gegen elende Ueberſezzer: die Brille
eines Compendiums oder das Fernglas eines
Syſtems in der Hand, naͤhert er jezt dieſe
Wahrheit, jezt entfernt er jene, um das Schat-
tenſpiel ſeiner Lieblingsbegriffe nur beſtaͤndig
zu erblicken; und eben dies iſt ein Kunſtrich-
ter nach dem gewoͤhnlichen Geſchmack: er
wird ſeinen Leſern ſo unentbehrlich, als die
Zeichen und Wetterprophezeiungen im Kalen-
der den Tagewaͤhlerinnen ſind: er wird gele-
ſen, gelobt und vergeſſen: ſeine Ephemeriden,
gleich den Jnſekten dieſes Namens, haben ei-
ne Woche, einen Monat, eine Meſſe, ein
Jahr zu ihrem Lebenslauf.
Leſer! mit dem ich jezt ſpreche, folge dieſen
Winken, die nicht Einfaͤlle ſondern oft und
leider! bei den beſten Werken gemachte Beob-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/23>, abgerufen am 16.07.2024.
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