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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Leidenschaften und Empfindungen? Eine Lei-
denschaft,
eine Empfindung höchst ver-
schonert, hört auf, Leidenschaft, Empfin-
dung
zu seyn: zweitens, sie hat keinen sinn-
lichen
Ausdruck: das höchste Schöne hat
kein Bild. Wir wollen diese zwei Ursachen
sehen! Ein Schäfer mit höchst verschönerten
Empfindungen hört auf, Schäfer zu seyn; er
wird ein Poetischer Gott: das ist nicht mehr
ein Land der Erde, sondern ein Elysium der
Götter: er handelt nicht mehr, sondern be-
schäftigt
sich höchstens, um seine Jdealgröße
zu zeigen: er wird aus einem Menschen ein
Engel: seine Zeit ein gewisses Figment der
goldnen Zeit. -- Und profitirt der Dichter
dabei? Ohnmöglich! Uns rührt-nichts, was
nicht mehr Mensch ist: Götter, die nicht
menschlich werden, bewundern wir höch-
stens mit kalter Bewunderung: so entgehk
dem Dichter viel von seinem Zweck: und noch
mehr von der Mannichfaltigkeit seiner Cha-
raktere.
Wenn ich immer die höchst ver-
schonerte Schäferlarve sehe, so verliere ich
die Verschiedenheit menschlicher Gesichts-
züge: dem Dichter entgehen zehn Situatio-

nen;

Leidenſchaften und Empfindungen? Eine Lei-
denſchaft,
eine Empfindung hoͤchſt ver-
ſcho̊nert, hoͤrt auf, Leidenſchaft, Empfin-
dung
zu ſeyn: zweitens, ſie hat keinen ſinn-
lichen
Ausdruck: das hoͤchſte Schoͤne hat
kein Bild. Wir wollen dieſe zwei Urſachen
ſehen! Ein Schaͤfer mit hoͤchſt verſchoͤnerten
Empfindungen hoͤrt auf, Schaͤfer zu ſeyn; er
wird ein Poetiſcher Gott: das iſt nicht mehr
ein Land der Erde, ſondern ein Elyſium der
Goͤtter: er handelt nicht mehr, ſondern be-
ſchaͤftigt
ſich hoͤchſtens, um ſeine Jdealgroͤße
zu zeigen: er wird aus einem Menſchen ein
Engel: ſeine Zeit ein gewiſſes Figment der
goldnen Zeit. — Und profitirt der Dichter
dabei? Ohnmoͤglich! Uns ruͤhrt-nichts, was
nicht mehr Menſch iſt: Goͤtter, die nicht
menſchlich werden, bewundern wir hoͤch-
ſtens mit kalter Bewunderung: ſo entgehk
dem Dichter viel von ſeinem Zweck: und noch
mehr von der Mannichfaltigkeit ſeiner Cha-
raktere.
Wenn ich immer die hoͤchſt ver-
ſcho̊nerte Schaͤferlarve ſehe, ſo verliere ich
die Verſchiedenheit menſchlicher Geſichts-
zuͤge: dem Dichter entgehen zehn Situatio-

nen;
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[355/0187] Leidenſchaften und Empfindungen? Eine Lei- denſchaft, eine Empfindung hoͤchſt ver- ſcho̊nert, hoͤrt auf, Leidenſchaft, Empfin- dung zu ſeyn: zweitens, ſie hat keinen ſinn- lichen Ausdruck: das hoͤchſte Schoͤne hat kein Bild. Wir wollen dieſe zwei Urſachen ſehen! Ein Schaͤfer mit hoͤchſt verſchoͤnerten Empfindungen hoͤrt auf, Schaͤfer zu ſeyn; er wird ein Poetiſcher Gott: das iſt nicht mehr ein Land der Erde, ſondern ein Elyſium der Goͤtter: er handelt nicht mehr, ſondern be- ſchaͤftigt ſich hoͤchſtens, um ſeine Jdealgroͤße zu zeigen: er wird aus einem Menſchen ein Engel: ſeine Zeit ein gewiſſes Figment der goldnen Zeit. — Und profitirt der Dichter dabei? Ohnmoͤglich! Uns ruͤhrt-nichts, was nicht mehr Menſch iſt: Goͤtter, die nicht menſchlich werden, bewundern wir hoͤch- ſtens mit kalter Bewunderung: ſo entgehk dem Dichter viel von ſeinem Zweck: und noch mehr von der Mannichfaltigkeit ſeiner Cha- raktere. Wenn ich immer die hoͤchſt ver- ſcho̊nerte Schaͤferlarve ſehe, ſo verliere ich die Verſchiedenheit menſchlicher Geſichts- zuͤge: dem Dichter entgehen zehn Situatio- nen;

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/187>, abgerufen am 24.11.2024.