Leser, gegen Schriftsteller, und gegen das ganze Reich der Litteratur überhaupt.
Dem Leser erst Diener, denn Vertrauter, denn Arzt. Dem Schriftsteller erst Diener, denn Freund, denn Richter; und der ganzen Litteratur entweder als Schmelzer, oder als Handlanger, oder als Baumeister selbst.
Dem Leser sezzet er die Speisen in ihrer Lüsternheit und Anmuth vor, und sucht durch seinen eigenen Appetit ihren Geschmack zu erregen: dies sind die Auszüge, die gemei- nen Tagebücher. Der Leser ist schwach im Verdauen; er gibt ihm Wein zur Stärkung; er hat einen verdorbnen Geschmack; daher braucht er jezt ordentliche Cur. Dies sind die Kritischen Anmerkungen, die dem Leser Gesichtspunkte (im Lesen darlegen, die ihm) Erläuterungen, Prüfungen, Anwendungen darlegen -- und dieses Talent gehört immer nothwendig zum wahren Kritischen Geist. Du schreibst, als wenn du für dich schriebest: nein! Kunstrichter! du schreibst für Leser: diese nie aus den Augen zu lassen, dich nach ihren Schwächen, nicht aber Fehlern zu be- quemen, dich nach der Verschiedenheit ihrer Fa-
hig-
Leſer, gegen Schriftſteller, und gegen das ganze Reich der Litteratur uͤberhaupt.
Dem Leſer erſt Diener, denn Vertrauter, denn Arzt. Dem Schriftſteller erſt Diener, denn Freund, denn Richter; und der ganzen Litteratur entweder als Schmelzer, oder als Handlanger, oder als Baumeiſter ſelbſt.
Dem Leſer ſezzet er die Speiſen in ihrer Luͤſternheit und Anmuth vor, und ſucht durch ſeinen eigenen Appetit ihren Geſchmack zu erregen: dies ſind die Auszuͤge, die gemei- nen Tagebuͤcher. Der Leſer iſt ſchwach im Verdauen; er gibt ihm Wein zur Staͤrkung; er hat einen verdorbnen Geſchmack; daher braucht er jezt ordentliche Cur. Dies ſind die Kritiſchen Anmerkungen, die dem Leſer Geſichtspunkte (im Leſen darlegen, die ihm) Erlaͤuterungen, Pruͤfungen, Anwendungen darlegen — und dieſes Talent gehoͤrt immer nothwendig zum wahren Kritiſchen Geiſt. Du ſchreibſt, als wenn du fuͤr dich ſchriebeſt: nein! Kunſtrichter! du ſchreibſt fuͤr Leſer: dieſe nie aus den Augen zu laſſen, dich nach ihren Schwaͤchen, nicht aber Fehlern zu be- quemen, dich nach der Verſchiedenheit ihrer Få-
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Leſer, gegen Schriftſteller, und gegen das
ganze Reich der Litteratur uͤberhaupt.
Dem Leſer erſt Diener, denn Vertrauter,
denn Arzt. Dem Schriftſteller erſt Diener,
denn Freund, denn Richter; und der ganzen
Litteratur entweder als Schmelzer, oder als
Handlanger, oder als Baumeiſter ſelbſt.
Dem Leſer ſezzet er die Speiſen in ihrer
Luͤſternheit und Anmuth vor, und ſucht durch
ſeinen eigenen Appetit ihren Geſchmack zu
erregen: dies ſind die Auszuͤge, die gemei-
nen Tagebuͤcher. Der Leſer iſt ſchwach im
Verdauen; er gibt ihm Wein zur Staͤrkung;
er hat einen verdorbnen Geſchmack; daher
braucht er jezt ordentliche Cur. Dies ſind
die Kritiſchen Anmerkungen, die dem Leſer
Geſichtspunkte (im Leſen darlegen, die ihm)
Erlaͤuterungen, Pruͤfungen, Anwendungen
darlegen — und dieſes Talent gehoͤrt immer
nothwendig zum wahren Kritiſchen Geiſt.
Du ſchreibſt, als wenn du fuͤr dich ſchriebeſt:
nein! Kunſtrichter! du ſchreibſt fuͤr Leſer:
dieſe nie aus den Augen zu laſſen, dich nach
ihren Schwaͤchen, nicht aber Fehlern zu be-
quemen, dich nach der Verſchiedenheit ihrer Få-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/18>, abgerufen am 16.07.2024.
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