dichte nach Anakreons Manier zur Ver- gleichung. Es ist eine feine Kritik nöthig, um bei solchen liebenswürdigen Kleinigkeiten den Charakter des Sängers zu ertappen; und eine noch feinere, zwei aus so verschiednen Ge- genden und Altern zu vergleichen -- einigen wird meine Parallele kindisch vorkommen; aber diese einige sind meistens solche, die es zu ihrer Beruhigung gar für unnüz halten, über Possen zu denken.
Anakreons Bilderchen nähern sich meistens einem kleinen Jdeal von Schönheit und Lie- be; und wenn sie dies nicht erreichen wollen, so sieht man ein feines Porträt, nach dem schönen Eigensinn eines Vorfalles, oder Ge- genstandes gebildet: ein allerliebstes Griechi- sches Liedchen, das die Gelegenheit charakte- risirt, die es gebar. Die erste Gattung schwingt sich auf zur feinen Jdee der Wohl- lust überhaupt; die zweite, die in die Um- stände eines Jndividualfalls gräbt, nähert sich der ersten, und wo sie ihr nachbleibt, giebt sie sich eine Art von Bestimmtheit, Spuren der Menschlichkeit, die wie ein Grübchen im Kinn, der Eindruck des Fingers der Liebe,
wie
dichte nach Anakreons Manier zur Ver- gleichung. Es iſt eine feine Kritik noͤthig, um bei ſolchen liebenswuͤrdigen Kleinigkeiten den Charakter des Saͤngers zu ertappen; und eine noch feinere, zwei aus ſo verſchiednen Ge- genden und Altern zu vergleichen — einigen wird meine Parallele kindiſch vorkommen; aber dieſe einige ſind meiſtens ſolche, die es zu ihrer Beruhigung gar fuͤr unnuͤz halten, uͤber Poſſen zu denken.
Anakreons Bilderchen naͤhern ſich meiſtens einem kleinen Jdeal von Schoͤnheit und Lie- be; und wenn ſie dies nicht erreichen wollen, ſo ſieht man ein feines Portraͤt, nach dem ſchoͤnen Eigenſinn eines Vorfalles, oder Ge- genſtandes gebildet: ein allerliebſtes Griechi- ſches Liedchen, das die Gelegenheit charakte- riſirt, die es gebar. Die erſte Gattung ſchwingt ſich auf zur feinen Jdee der Wohl- luſt uͤberhaupt; die zweite, die in die Um- ſtaͤnde eines Jndividualfalls graͤbt, naͤhert ſich der erſten, und wo ſie ihr nachbleibt, giebt ſie ſich eine Art von Beſtimmtheit, Spuren der Menſchlichkeit, die wie ein Gruͤbchen im Kinn, der Eindruck des Fingers der Liebe,
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dichte nach Anakreons Manier zur Ver-
gleichung. Es iſt eine feine Kritik noͤthig,
um bei ſolchen liebenswuͤrdigen Kleinigkeiten
den Charakter des Saͤngers zu ertappen; und
eine noch feinere, zwei aus ſo verſchiednen Ge-
genden und Altern zu vergleichen — einigen
wird meine Parallele kindiſch vorkommen;
aber dieſe einige ſind meiſtens ſolche, die es
zu ihrer Beruhigung gar fuͤr unnuͤz halten,
uͤber Poſſen zu denken.
Anakreons Bilderchen naͤhern ſich meiſtens
einem kleinen Jdeal von Schoͤnheit und Lie-
be; und wenn ſie dies nicht erreichen wollen,
ſo ſieht man ein feines Portraͤt, nach dem
ſchoͤnen Eigenſinn eines Vorfalles, oder Ge-
genſtandes gebildet: ein allerliebſtes Griechi-
ſches Liedchen, das die Gelegenheit charakte-
riſirt, die es gebar. Die erſte Gattung
ſchwingt ſich auf zur feinen Jdee der Wohl-
luſt uͤberhaupt; die zweite, die in die Um-
ſtaͤnde eines Jndividualfalls graͤbt, naͤhert ſich
der erſten, und wo ſie ihr nachbleibt, giebt ſie
ſich eine Art von Beſtimmtheit, Spuren
der Menſchlichkeit, die wie ein Gruͤbchen im
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/171>, abgerufen am 16.07.2024.
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