Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Wenn Pindar sich von seinem Punkte in
der Einbildungskraft zu verlieren scheint: so
findet er sich mit desto größerem Pomp, hier
mit einem allgemeinen hohen Spruche, dort
mit einer Anrufung an die Muse etc. zurück:
So fließt ein majestätischer Strom, reich
um Arme auszulassen, und sparsam, sie wie-
der an sich zu ziehen, in seinem breiten Bette
fort, und wälzt sich mit hundert Händen
brausend vom Felsen herab, um sich im Thale
zusammen zu finden: ein großer gewaltiger
Strom, der Name seiner Gegend; -- aber ein
Regenguß, der sich aus den Wolken auf Sand
ergoß, zerfließt mit hundert Aesten ohne Stamm
im Sande: er verliert sich Namenlos und
ist nicht mehr.

Und wo ist des Dithyramben Sylbenmaas?
Er spielt auf einer Pfeife mit zwei und einem
halben Ton: wo ist die Sprache? Wo ver-
räth er die Freudentöne, die ein allmächti-
ger Griechischer Tanz belebte, der dem Bac-
chus nacheiferte, der die höchste Musik, die
stärkste Deklamation, die größte Dichterei
vereinigte? -- dazu sind gar keine Gegen-

stände

Wenn Pindar ſich von ſeinem Punkte in
der Einbildungskraft zu verlieren ſcheint: ſo
findet er ſich mit deſto groͤßerem Pomp, hier
mit einem allgemeinen hohen Spruche, dort
mit einer Anrufung an die Muſe ꝛc. zuruͤck:
So fließt ein majeſtaͤtiſcher Strom, reich
um Arme auszulaſſen, und ſparſam, ſie wie-
der an ſich zu ziehen, in ſeinem breiten Bette
fort, und waͤlzt ſich mit hundert Haͤnden
brauſend vom Felſen herab, um ſich im Thale
zuſammen zu finden: ein großer gewaltiger
Strom, der Name ſeiner Gegend; — aber ein
Regenguß, der ſich aus den Wolken auf Sand
ergoß, zerfließt mit hundert Aeſten ohne Stamm
im Sande: er verliert ſich Namenlos und
iſt nicht mehr.

Und wo iſt des Dithyramben Sylbenmaas?
Er ſpielt auf einer Pfeife mit zwei und einem
halben Ton: wo iſt die Sprache? Wo ver-
raͤth er die Freudentoͤne, die ein allmaͤchti-
ger Griechiſcher Tanz belebte, der dem Bac-
chus nacheiferte, der die hoͤchſte Muſik, die
ſtaͤrkſte Deklamation, die groͤßte Dichterei
vereinigte? — dazu ſind gar keine Gegen-

ſtaͤnde
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0164" n="332"/>
          <p>Wenn Pindar &#x017F;ich von &#x017F;einem Punkte in<lb/>
der Einbildungskraft zu verlieren &#x017F;cheint: &#x017F;o<lb/>
findet er &#x017F;ich mit de&#x017F;to gro&#x0364;ßerem Pomp, hier<lb/>
mit einem allgemeinen hohen Spruche, dort<lb/>
mit einer Anrufung an die Mu&#x017F;e &#xA75B;c. zuru&#x0364;ck:<lb/>
So fließt ein maje&#x017F;ta&#x0364;ti&#x017F;cher Strom, reich<lb/>
um Arme auszula&#x017F;&#x017F;en, und &#x017F;par&#x017F;am, &#x017F;ie wie-<lb/>
der an &#x017F;ich zu ziehen, in &#x017F;einem breiten Bette<lb/>
fort, und wa&#x0364;lzt &#x017F;ich mit hundert Ha&#x0364;nden<lb/>
brau&#x017F;end vom Fel&#x017F;en herab, um &#x017F;ich im Thale<lb/>
zu&#x017F;ammen zu finden: ein großer gewaltiger<lb/>
Strom, der Name &#x017F;einer Gegend; &#x2014; aber ein<lb/>
Regenguß, der &#x017F;ich aus den Wolken auf Sand<lb/>
ergoß, zerfließt mit hundert Ae&#x017F;ten ohne Stamm<lb/>
im Sande: er verliert &#x017F;ich Namenlos und<lb/>
i&#x017F;t nicht mehr.</p><lb/>
          <p>Und wo i&#x017F;t des Dithyramben Sylbenmaas?<lb/>
Er &#x017F;pielt auf einer Pfeife mit zwei und einem<lb/>
halben Ton: wo i&#x017F;t die Sprache? Wo ver-<lb/>
ra&#x0364;th er die Freudento&#x0364;ne, die ein allma&#x0364;chti-<lb/>
ger Griechi&#x017F;cher Tanz belebte, der dem Bac-<lb/>
chus nacheiferte, der die ho&#x0364;ch&#x017F;te Mu&#x017F;ik, die<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;te Deklamation, die gro&#x0364;ßte Dichterei<lb/>
vereinigte? &#x2014; dazu &#x017F;ind gar keine Gegen-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ta&#x0364;nde</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[332/0164] Wenn Pindar ſich von ſeinem Punkte in der Einbildungskraft zu verlieren ſcheint: ſo findet er ſich mit deſto groͤßerem Pomp, hier mit einem allgemeinen hohen Spruche, dort mit einer Anrufung an die Muſe ꝛc. zuruͤck: So fließt ein majeſtaͤtiſcher Strom, reich um Arme auszulaſſen, und ſparſam, ſie wie- der an ſich zu ziehen, in ſeinem breiten Bette fort, und waͤlzt ſich mit hundert Haͤnden brauſend vom Felſen herab, um ſich im Thale zuſammen zu finden: ein großer gewaltiger Strom, der Name ſeiner Gegend; — aber ein Regenguß, der ſich aus den Wolken auf Sand ergoß, zerfließt mit hundert Aeſten ohne Stamm im Sande: er verliert ſich Namenlos und iſt nicht mehr. Und wo iſt des Dithyramben Sylbenmaas? Er ſpielt auf einer Pfeife mit zwei und einem halben Ton: wo iſt die Sprache? Wo ver- raͤth er die Freudentoͤne, die ein allmaͤchti- ger Griechiſcher Tanz belebte, der dem Bac- chus nacheiferte, der die hoͤchſte Muſik, die ſtaͤrkſte Deklamation, die groͤßte Dichterei vereinigte? — dazu ſind gar keine Gegen- ſtaͤnde

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/164
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/164>, abgerufen am 18.05.2024.