gend den Homer gelesen, so betraf es ja hier keine Moralische Lehre, und noch weniger Poetische Schönheit; sondern eine Politische Situation. Und ich kann noch weiter gehen, wenn ich den fruchtbaren Folgerungen, die diefer Fll. bei seinen Kritischen Streitigkeiten sonst reichlich bewiesen hat, nachahme: eben weil die Richter den Lieblingsdichter ihrer Jugend in Sokrates Munde so gemißhandelt sahen; eben weil sie viel von dem Ansehen eines Poeten zu befürchten hatten, den jeder für göttlich hielt, den die kaloi k'agathoi auswendig wusten -- so nahmen sie die Sa- che so ernsthaft.
Ueberhaupt zeigt dieser ganze Proreß, daß wir keinen Homer mehr haben können, dem die Ehrennamen: Vater der Weis- heit, der Tapferkeit, der Dichtkunst, im hohen Griechischen Sinne zukommen könn- ten; keinen Homer, der für uns so ein Ori- ginal nach Sprache, Sitten, Geschichte, Fa- beln und Melodie seyn kann, als es jener für die Griechen war: jene liebten Heldenerzäh- lungen von ihren Vorfahren aus einer alten Sage: Mythologien von Göttern, die ihre
Väter,
gend den Homer geleſen, ſo betraf es ja hier keine Moraliſche Lehre, und noch weniger Poetiſche Schoͤnheit; ſondern eine Politiſche Situation. Und ich kann noch weiter gehen, wenn ich den fruchtbaren Folgerungen, die diefer Fll. bei ſeinen Kritiſchen Streitigkeiten ſonſt reichlich bewieſen hat, nachahme: eben weil die Richter den Lieblingsdichter ihrer Jugend in Sokrates Munde ſo gemißhandelt ſahen; eben weil ſie viel von dem Anſehen eines Poeten zu befuͤrchten hatten, den jeder fuͤr goͤttlich hielt, den die καλοι κ’αγαϑοι auswendig wuſten — ſo nahmen ſie die Sa- che ſo ernſthaft.
Ueberhaupt zeigt dieſer ganze Proreß, daß wir keinen Homer mehr haben koͤnnen, dem die Ehrennamen: Vater der Weis- heit, der Tapferkeit, der Dichtkunſt, im hohen Griechiſchen Sinne zukommen koͤnn- ten; keinen Homer, der fuͤr uns ſo ein Ori- ginal nach Sprache, Sitten, Geſchichte, Fa- beln und Melodie ſeyn kann, als es jener fuͤr die Griechen war: jene liebten Heldenerzaͤh- lungen von ihren Vorfahren aus einer alten Sage: Mythologien von Goͤttern, die ihre
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gend den Homer geleſen, ſo betraf es ja hier
keine Moraliſche Lehre, und noch weniger
Poetiſche Schoͤnheit; ſondern eine Politiſche
Situation. Und ich kann noch weiter gehen,
wenn ich den fruchtbaren Folgerungen, die
diefer Fll. bei ſeinen Kritiſchen Streitigkeiten
ſonſt reichlich bewieſen hat, nachahme: eben
weil die Richter den Lieblingsdichter ihrer
Jugend in Sokrates Munde ſo gemißhandelt
ſahen; eben weil ſie viel von dem Anſehen
eines Poeten zu befuͤrchten hatten, den jeder
fuͤr goͤttlich hielt, den die καλοι κ’αγαϑοι
auswendig wuſten — ſo nahmen ſie die Sa-
che ſo ernſthaft.
Ueberhaupt zeigt dieſer ganze Proreß, daß
wir keinen Homer mehr haben koͤnnen,
dem die Ehrennamen: Vater der Weis-
heit, der Tapferkeit, der Dichtkunſt, im
hohen Griechiſchen Sinne zukommen koͤnn-
ten; keinen Homer, der fuͤr uns ſo ein Ori-
ginal nach Sprache, Sitten, Geſchichte, Fa-
beln und Melodie ſeyn kann, als es jener fuͤr
die Griechen war: jene liebten Heldenerzaͤh-
lungen von ihren Vorfahren aus einer alten
Sage: Mythologien von Goͤttern, die ihre
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/118>, abgerufen am 16.02.2025.
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