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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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aus dieser Zeit eigentlich nur den einzigen Ho-
mer, dessen Rhapsodien durch einen glückli-
chen Zufall viele Olympiaden nach seinem To-
de blieben, bis sie gesamlet wurden: da alle
übrige Dichter vor ihm, und viele nach ihm
verlohren sind. Aeschylus und Sophokles
und Euripides beschlossen die Poetische Zeit;
in ihrem Zeitalter erfand Pherecydes die
Prose; Herodot schrieb seine Historie, noch
ohne Perioden; bald gab Gorgias der Rede-
kunst die Gestalt einer Wissenschaft, die Welt-
weisheit fieng an öffentlich gelehrt zu werden,
und die Grammatik wurde bestimmt. -- Was
sollen wir aus dieser Zeit durch Uebersezzun-
gen für unsre Sprache rauben?

Nur nicht die Sylbenmaaße! denn es
ergiebt sich gleich, daß diese schwer nachzuah-
men seyn müssen. Damals, als noch die
aoidoi, und rapsodoi sangen; da man auch
im gemeinen Leben die Wörter in so hohem
Ton aussprach, daß man nicht blos lange und
kurze Sylben, sondern auch hohe und niedri-
ge
Accente deutlich hören ließ, daß jedes Ohr
der Urteiler der Prosodie seyn konnte; damals
war der Rhythmus der Sprache noch so helle,

daß

aus dieſer Zeit eigentlich nur den einzigen Ho-
mer, deſſen Rhapſodien durch einen gluͤckli-
chen Zufall viele Olympiaden nach ſeinem To-
de blieben, bis ſie geſamlet wurden: da alle
uͤbrige Dichter vor ihm, und viele nach ihm
verlohren ſind. Aeſchylus und Sophokles
und Euripides beſchloſſen die Poetiſche Zeit;
in ihrem Zeitalter erfand Pherecydes die
Proſe; Herodot ſchrieb ſeine Hiſtorie, noch
ohne Perioden; bald gab Gorgias der Rede-
kunſt die Geſtalt einer Wiſſenſchaft, die Welt-
weisheit fieng an oͤffentlich gelehrt zu werden,
und die Grammatik wurde beſtimmt. — Was
ſollen wir aus dieſer Zeit durch Ueberſezzun-
gen fuͤr unſre Sprache rauben?

Nur nicht die Sylbenmaaße! denn es
ergiebt ſich gleich, daß dieſe ſchwer nachzuah-
men ſeyn muͤſſen. Damals, als noch die
αοιδοι, und ραψωδοι ſangen; da man auch
im gemeinen Leben die Woͤrter in ſo hohem
Ton ausſprach, daß man nicht blos lange und
kurze Sylben, ſondern auch hohe und niedri-
ge
Accente deutlich hoͤren ließ, daß jedes Ohr
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[66/0070] aus dieſer Zeit eigentlich nur den einzigen Ho- mer, deſſen Rhapſodien durch einen gluͤckli- chen Zufall viele Olympiaden nach ſeinem To- de blieben, bis ſie geſamlet wurden: da alle uͤbrige Dichter vor ihm, und viele nach ihm verlohren ſind. Aeſchylus und Sophokles und Euripides beſchloſſen die Poetiſche Zeit; in ihrem Zeitalter erfand Pherecydes die Proſe; Herodot ſchrieb ſeine Hiſtorie, noch ohne Perioden; bald gab Gorgias der Rede- kunſt die Geſtalt einer Wiſſenſchaft, die Welt- weisheit fieng an oͤffentlich gelehrt zu werden, und die Grammatik wurde beſtimmt. — Was ſollen wir aus dieſer Zeit durch Ueberſezzun- gen fuͤr unſre Sprache rauben? Nur nicht die Sylbenmaaße! denn es ergiebt ſich gleich, daß dieſe ſchwer nachzuah- men ſeyn muͤſſen. Damals, als noch die αοιδοι, und ραψωδοι ſangen; da man auch im gemeinen Leben die Woͤrter in ſo hohem Ton ausſprach, daß man nicht blos lange und kurze Sylben, ſondern auch hohe und niedri- ge Accente deutlich hoͤren ließ, daß jedes Ohr der Urteiler der Proſodie ſeyn konnte; damals war der Rhythmus der Sprache noch ſo helle, daß

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/70>, abgerufen am 24.11.2024.