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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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"kleinen Theile ihrer Perioden aufgelöset, de-
"ren jeden man als einen einzelnen Vers ei-
"nes besondern Sylbenmaaßes betrachten
"könnte" statt daß ihn die Litteraturbriefe eine
künstliche Prose nannten. Jch überließ
mich meinen Gedanken, und glaubte endlich,
daß dies Sylbenmaaß uns vielleicht von vie-
lem Uebel erlösen, und viel Ausschluß und
Bequemlichkeit bringen könnte. Man höre
mich an:

Erstens: Hätten wir einen Dithyrambi-
schen Dichter, der wirklich von dem Bliz-
strahle des Bacchus getroffen, trunken, und
begeistert tönen würde: -- natürlich wäre
kein gefesseltes Sylbenmaaß für ihn; er zer-
reißt es, wie Simson die Bastseile, als
Zwirnsfäden. Allein diese Verse sind Pinda-
rische Pfeile in der Hand des Starken: die,
mit Pindar zu reden, blos für die Mitver-
ständige klingen, dem großen Haufen der Aus-
leger aber, wie eine dunkle Wolke scheinen.
Unser mißglückter Dithyrambensänger kann
dieser Bemerkung, durch seinen Jkarischen
Fall ein Gewicht beilegen.

Zwei-

„kleinen Theile ihrer Perioden aufgeloͤſet, de-
„ren jeden man als einen einzelnen Vers ei-
„nes beſondern Sylbenmaaßes betrachten
„koͤnnte„ ſtatt daß ihn die Litteraturbriefe eine
kuͤnſtliche Proſe nannten. Jch uͤberließ
mich meinen Gedanken, und glaubte endlich,
daß dies Sylbenmaaß uns vielleicht von vie-
lem Uebel erloͤſen, und viel Auſſchluß und
Bequemlichkeit bringen koͤnnte. Man hoͤre
mich an:

Erſtens: Haͤtten wir einen Dithyrambi-
ſchen Dichter, der wirklich von dem Bliz-
ſtrahle des Bacchus getroffen, trunken, und
begeiſtert toͤnen wuͤrde: — natuͤrlich waͤre
kein gefeſſeltes Sylbenmaaß fuͤr ihn; er zer-
reißt es, wie Simſon die Baſtſeile, als
Zwirnsfaͤden. Allein dieſe Verſe ſind Pinda-
riſche Pfeile in der Hand des Starken: die,
mit Pindar zu reden, blos fuͤr die Mitver-
ſtaͤndige klingen, dem großen Haufen der Aus-
leger aber, wie eine dunkle Wolke ſcheinen.
Unſer mißgluͤckter Dithyrambenſaͤnger kann
dieſer Bemerkung, durch ſeinen Jkariſchen
Fall ein Gewicht beilegen.

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[127/0131] „kleinen Theile ihrer Perioden aufgeloͤſet, de- „ren jeden man als einen einzelnen Vers ei- „nes beſondern Sylbenmaaßes betrachten „koͤnnte„ ſtatt daß ihn die Litteraturbriefe eine kuͤnſtliche Proſe nannten. Jch uͤberließ mich meinen Gedanken, und glaubte endlich, daß dies Sylbenmaaß uns vielleicht von vie- lem Uebel erloͤſen, und viel Auſſchluß und Bequemlichkeit bringen koͤnnte. Man hoͤre mich an: Erſtens: Haͤtten wir einen Dithyrambi- ſchen Dichter, der wirklich von dem Bliz- ſtrahle des Bacchus getroffen, trunken, und begeiſtert toͤnen wuͤrde: — natuͤrlich waͤre kein gefeſſeltes Sylbenmaaß fuͤr ihn; er zer- reißt es, wie Simſon die Baſtſeile, als Zwirnsfaͤden. Allein dieſe Verſe ſind Pinda- riſche Pfeile in der Hand des Starken: die, mit Pindar zu reden, blos fuͤr die Mitver- ſtaͤndige klingen, dem großen Haufen der Aus- leger aber, wie eine dunkle Wolke ſcheinen. Unſer mißgluͤckter Dithyrambenſaͤnger kann dieſer Bemerkung, durch ſeinen Jkariſchen Fall ein Gewicht beilegen. Zwei-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/131>, abgerufen am 12.05.2024.