Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769.Kritische Wälder. graphie der Alten ist uns nicht Nationell. Nichtaus unsrer Sprache geschöpft, und oft nicht ein- mal mit dieser stimmend; nicht aus unsern ange- bohrnen Jdolen, in denen wir uns als Kinder allgemeine Begriffe denken, gebildet, und oft denselben widersprechend -- nicht also dem Auge des gemeinen guten Verstandes unter uns kennbar, nicht also National. Die Jdole etwa und Mär- chen, in die unsre Kindheit allgemeine Begriffe kleidet, sind Gothisch, oft ungeheuer, fast nie- mals für die Kunst. Sie sind nicht von griechi- schen Dichtern der Schönheit, sondern durch nor- dische Märchen eingepflanzet: einige von ihnen bestätigt unsre Sprache, die sich nach ihnen beque- met: alle aber sind gegen die Menge griechi- scher Nationalbilder nur ein verschwindendes Zwei oder Drei. Jn den Schatten der Jahrhun- derte sind sie verschwunden; und für die Kunst haben wir auch an solchen gothischen Gestalten der Einbildungskraft nichts verlohren. Die rei- nere Wissenschaft, die in unsern nordischen Ge- genden durchaus freier von solchen Hüllen der Mittagsländer gedacht wird, die Cultur des Publikum nach unsrer unsinnlichen Religion, und unsinnlichen Philosophie hat sie vertrieben: wir haben also kein dichterisches, allegorisches Publi- kum mehr. Und
Kritiſche Waͤlder. graphie der Alten iſt uns nicht Nationell. Nichtaus unſrer Sprache geſchoͤpft, und oft nicht ein- mal mit dieſer ſtimmend; nicht aus unſern ange- bohrnen Jdolen, in denen wir uns als Kinder allgemeine Begriffe denken, gebildet, und oft denſelben widerſprechend — nicht alſo dem Auge des gemeinen guten Verſtandes unter uns kennbar, nicht alſo National. Die Jdole etwa und Maͤr- chen, in die unſre Kindheit allgemeine Begriffe kleidet, ſind Gothiſch, oft ungeheuer, faſt nie- mals fuͤr die Kunſt. Sie ſind nicht von griechi- ſchen Dichtern der Schoͤnheit, ſondern durch nor- diſche Maͤrchen eingepflanzet: einige von ihnen beſtaͤtigt unſre Sprache, die ſich nach ihnen beque- met: alle aber ſind gegen die Menge griechi- ſcher Nationalbilder nur ein verſchwindendes Zwei oder Drei. Jn den Schatten der Jahrhun- derte ſind ſie verſchwunden; und fuͤr die Kunſt haben wir auch an ſolchen gothiſchen Geſtalten der Einbildungskraft nichts verlohren. Die rei- nere Wiſſenſchaft, die in unſern nordiſchen Ge- genden durchaus freier von ſolchen Huͤllen der Mittagslaͤnder gedacht wird, die Cultur des Publikum nach unſrer unſinnlichen Religion, und unſinnlichen Philoſophie hat ſie vertrieben: wir haben alſo kein dichteriſches, allegoriſches Publi- kum mehr. Und
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Kritiſche Waͤlder.
graphie der Alten iſt uns nicht Nationell. Nicht
aus unſrer Sprache geſchoͤpft, und oft nicht ein-
mal mit dieſer ſtimmend; nicht aus unſern ange-
bohrnen Jdolen, in denen wir uns als Kinder
allgemeine Begriffe denken, gebildet, und oft
denſelben widerſprechend — nicht alſo dem Auge
des gemeinen guten Verſtandes unter uns kennbar,
nicht alſo National. Die Jdole etwa und Maͤr-
chen, in die unſre Kindheit allgemeine Begriffe
kleidet, ſind Gothiſch, oft ungeheuer, faſt nie-
mals fuͤr die Kunſt. Sie ſind nicht von griechi-
ſchen Dichtern der Schoͤnheit, ſondern durch nor-
diſche Maͤrchen eingepflanzet: einige von ihnen
beſtaͤtigt unſre Sprache, die ſich nach ihnen beque-
met: alle aber ſind gegen die Menge griechi-
ſcher Nationalbilder nur ein verſchwindendes Zwei
oder Drei. Jn den Schatten der Jahrhun-
derte ſind ſie verſchwunden; und fuͤr die Kunſt
haben wir auch an ſolchen gothiſchen Geſtalten
der Einbildungskraft nichts verlohren. Die rei-
nere Wiſſenſchaft, die in unſern nordiſchen Ge-
genden durchaus freier von ſolchen Huͤllen der
Mittagslaͤnder gedacht wird, die Cultur des
Publikum nach unſrer unſinnlichen Religion, und
unſinnlichen Philoſophie hat ſie vertrieben: wir
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Zitationshilfe: | Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769/84>, abgerufen am 16.02.2025. |