Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769.Drittes Wäldchen. Tempel voll ehrwürdigen Ruinen aufhäufen lassen,an dem die Antiquarien seit Jahrtausenden gebauet. Aus Dichtern und über Dichter läßt sich auch hi- storisch am besten dichten: wie aber, wo keine solche Dichter da sind? Man tritt in den Tempel der griechischen Geschichte: Chöre von Sängern em- pfangen uns, und hinter ihnen dringen Dollme- scher ihrer Gesänge doch unmittelbar an. Doll- metscher der Wahrheit? freilich nicht! aber so man- cher Wahrscheinlichkeit, so mancher Erzählung, die den Boden der Geschichte nicht ganz leer läßt, so mancher Sage, die ungemein klug machen kann: durch die Griechen und Römer ihrer Geschichte so viel Farbe des pragmatischen Ursprunges gegeben, die manchen Schulgrübler geblendet, die unsre Hüb- ners mit so artigen Mährchen ausgefüllt, die so viel antiquarische Hypothesen und Untersuchungen veranlasset -- alles nicht bei der deutschen Ge- schichte. Jch trete in ihren Tempel und -- die Stimme der Barden schweigt. Kein Laut, kein Echo vergangener Zeiten. Aber die Taciti unter den Römern? Sie schrei-
Drittes Waͤldchen. Tempel voll ehrwuͤrdigen Ruinen aufhaͤufen laſſen,an dem die Antiquarien ſeit Jahrtauſenden gebauet. Aus Dichtern und uͤber Dichter laͤßt ſich auch hi- ſtoriſch am beſten dichten: wie aber, wo keine ſolche Dichter da ſind? Man tritt in den Tempel der griechiſchen Geſchichte: Choͤre von Saͤngern em- pfangen uns, und hinter ihnen dringen Dollme- ſcher ihrer Geſaͤnge doch unmittelbar an. Doll- metſcher der Wahrheit? freilich nicht! aber ſo man- cher Wahrſcheinlichkeit, ſo mancher Erzaͤhlung, die den Boden der Geſchichte nicht ganz leer laͤßt, ſo mancher Sage, die ungemein klug machen kann: durch die Griechen und Roͤmer ihrer Geſchichte ſo viel Farbe des pragmatiſchen Urſprunges gegeben, die manchen Schulgruͤbler geblendet, die unſre Huͤb- ners mit ſo artigen Maͤhrchen ausgefuͤllt, die ſo viel antiquariſche Hypotheſen und Unterſuchungen veranlaſſet — alles nicht bei der deutſchen Ge- ſchichte. Jch trete in ihren Tempel und — die Stimme der Barden ſchweigt. Kein Laut, kein Echo vergangener Zeiten. Aber die Taciti unter den Roͤmern? Sie ſchrei-
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Drittes Waͤldchen.
Tempel voll ehrwuͤrdigen Ruinen aufhaͤufen laſſen,
an dem die Antiquarien ſeit Jahrtauſenden gebauet.
Aus Dichtern und uͤber Dichter laͤßt ſich auch hi-
ſtoriſch am beſten dichten: wie aber, wo keine ſolche
Dichter da ſind? Man tritt in den Tempel der
griechiſchen Geſchichte: Choͤre von Saͤngern em-
pfangen uns, und hinter ihnen dringen Dollme-
ſcher ihrer Geſaͤnge doch unmittelbar an. Doll-
metſcher der Wahrheit? freilich nicht! aber ſo man-
cher Wahrſcheinlichkeit, ſo mancher Erzaͤhlung, die
den Boden der Geſchichte nicht ganz leer laͤßt, ſo
mancher Sage, die ungemein klug machen kann:
durch die Griechen und Roͤmer ihrer Geſchichte ſo viel
Farbe des pragmatiſchen Urſprunges gegeben, die
manchen Schulgruͤbler geblendet, die unſre Huͤb-
ners mit ſo artigen Maͤhrchen ausgefuͤllt, die ſo
viel antiquariſche Hypotheſen und Unterſuchungen
veranlaſſet — alles nicht bei der deutſchen Ge-
ſchichte. Jch trete in ihren Tempel und — die
Stimme der Barden ſchweigt. Kein Laut, kein
Echo vergangener Zeiten.
Aber die Taciti unter den Roͤmern? Sie
haben mit ihren einzelnen Sylben und Stuͤckwerken
von den Deutſchen uns mehr Ton gegeben, als
ganze Liederſammlungen der Barden. Sie, Schrift-
ſteller eines gebildeten Roms, Geſchichtſchreiber, die
an den Merkwuͤrdigkeiten ſo viel anderer Voͤlker ihren
hiſtoriſchen Geiſt gebildet hatten: ſie, Geſchicht-
ſchrei-
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