Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Wäldchen.
und Puppen, und Bilder und Tändeleien, (wohin
unsre Zeit verfällt:) sondern für die Seele, für die
Einbildungskraft, für den Verstand, für die Affek-
ten feurige Gedanken reden will, dem berührt sie nur
immer den Saum seines Kleides. Will sie sich
an ihn hängen: soll ich bei jedem Bildchen Ho-
mers, Pindars und Horaz erst nachsehen, wie denn
dieser und jener alte Künstler das Figurchen gebil-
det: soll ich hier lange klotzische Compilationen durch-
laufen, wie es von einer andern Seite aussehe --
hinderndes Säumniß! es hält den Dichter auf,
und zerstückt ihn mit seinen Erläuterungen; oder
dieser gewaltige Läufer reißt sich los, und eilt zu
seinem Ziele unaufhaltsam: der Gemmenzähler aber
-- da liegt er längelang auf dem Rücken!

Jnsonderheit bitte ich für den poetischen Jüng-
ling im ersten feurigen Lesen eines Dichters: daß
man ihn doch da nicht mit schönen Münzerläute-
rungen und Gemmeneinsichten in dem poetischen Lau-
fe seiner Einbildungskraft störe! daß man ihn doch
nicht jeden Augenblick zurück halte, um doch ein
Steinchen zu bemerken, und ihn vom süßen fortwal-
lenden Traume seiner Lieblingsidee zu wecken, und
die unaufhaltsame Ergießung seiner Seele augen-
blicklich zu verstopfen. Jch mag nicht Caylus in
der Hand haben, wenn ich Homer lese, und noch
weniger wünschte ich, ihn zur Hand gehabt zu ha-

ben,
Q 4

Zweites Waͤldchen.
und Puppen, und Bilder und Taͤndeleien, (wohin
unſre Zeit verfaͤllt:) ſondern fuͤr die Seele, fuͤr die
Einbildungskraft, fuͤr den Verſtand, fuͤr die Affek-
ten feurige Gedanken reden will, dem beruͤhrt ſie nur
immer den Saum ſeines Kleides. Will ſie ſich
an ihn haͤngen: ſoll ich bei jedem Bildchen Ho-
mers, Pindars und Horaz erſt nachſehen, wie denn
dieſer und jener alte Kuͤnſtler das Figurchen gebil-
det: ſoll ich hier lange klotziſche Compilationen durch-
laufen, wie es von einer andern Seite ausſehe —
hinderndes Saͤumniß! es haͤlt den Dichter auf,
und zerſtuͤckt ihn mit ſeinen Erlaͤuterungen; oder
dieſer gewaltige Laͤufer reißt ſich los, und eilt zu
ſeinem Ziele unaufhaltſam: der Gemmenzaͤhler aber
— da liegt er laͤngelang auf dem Ruͤcken!

Jnſonderheit bitte ich fuͤr den poetiſchen Juͤng-
ling im erſten feurigen Leſen eines Dichters: daß
man ihn doch da nicht mit ſchoͤnen Muͤnzerlaͤute-
rungen und Gemmeneinſichten in dem poetiſchen Lau-
fe ſeiner Einbildungskraft ſtoͤre! daß man ihn doch
nicht jeden Augenblick zuruͤck halte, um doch ein
Steinchen zu bemerken, und ihn vom ſuͤßen fortwal-
lenden Traume ſeiner Lieblingsidee zu wecken, und
die unaufhaltſame Ergießung ſeiner Seele augen-
blicklich zu verſtopfen. Jch mag nicht Caylus in
der Hand haben, wenn ich Homer leſe, und noch
weniger wuͤnſchte ich, ihn zur Hand gehabt zu ha-

ben,
Q 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0253" n="247"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
und Puppen, und Bilder und Ta&#x0364;ndeleien, (wohin<lb/>
un&#x017F;re Zeit verfa&#x0364;llt:) &#x017F;ondern fu&#x0364;r die Seele, fu&#x0364;r die<lb/>
Einbildungskraft, fu&#x0364;r den Ver&#x017F;tand, fu&#x0364;r die Affek-<lb/>
ten feurige Gedanken reden will, dem beru&#x0364;hrt &#x017F;ie nur<lb/>
immer den Saum &#x017F;eines Kleides. Will &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
an ihn ha&#x0364;ngen: &#x017F;oll ich bei jedem Bildchen Ho-<lb/>
mers, Pindars und Horaz er&#x017F;t nach&#x017F;ehen, wie denn<lb/>
die&#x017F;er und jener alte Ku&#x0364;n&#x017F;tler das Figurchen gebil-<lb/>
det: &#x017F;oll ich hier lange klotzi&#x017F;che Compilationen durch-<lb/>
laufen, wie es von einer andern Seite aus&#x017F;ehe &#x2014;<lb/>
hinderndes Sa&#x0364;umniß! es ha&#x0364;lt den Dichter auf,<lb/>
und zer&#x017F;tu&#x0364;ckt ihn mit &#x017F;einen Erla&#x0364;uterungen; oder<lb/>
die&#x017F;er gewaltige La&#x0364;ufer reißt &#x017F;ich los, und eilt zu<lb/>
&#x017F;einem Ziele unaufhalt&#x017F;am: der Gemmenza&#x0364;hler aber<lb/>
&#x2014; da liegt er la&#x0364;ngelang auf dem Ru&#x0364;cken!</p><lb/>
          <p>Jn&#x017F;onderheit bitte ich fu&#x0364;r den poeti&#x017F;chen Ju&#x0364;ng-<lb/>
ling im er&#x017F;ten feurigen Le&#x017F;en eines Dichters: daß<lb/>
man ihn doch da nicht mit &#x017F;cho&#x0364;nen Mu&#x0364;nzerla&#x0364;ute-<lb/>
rungen und Gemmenein&#x017F;ichten in dem poeti&#x017F;chen Lau-<lb/>
fe &#x017F;einer Einbildungskraft &#x017F;to&#x0364;re! daß man ihn doch<lb/>
nicht jeden Augenblick zuru&#x0364;ck halte, um doch ein<lb/>
Steinchen zu bemerken, und ihn vom &#x017F;u&#x0364;ßen fortwal-<lb/>
lenden Traume &#x017F;einer Lieblingsidee zu wecken, und<lb/>
die unaufhalt&#x017F;ame Ergießung &#x017F;einer Seele augen-<lb/>
blicklich zu ver&#x017F;topfen. Jch mag nicht Caylus in<lb/>
der Hand haben, wenn ich Homer le&#x017F;e, und noch<lb/>
weniger wu&#x0364;n&#x017F;chte ich, ihn zur Hand gehabt zu ha-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Q 4</fw><fw place="bottom" type="catch">ben,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[247/0253] Zweites Waͤldchen. und Puppen, und Bilder und Taͤndeleien, (wohin unſre Zeit verfaͤllt:) ſondern fuͤr die Seele, fuͤr die Einbildungskraft, fuͤr den Verſtand, fuͤr die Affek- ten feurige Gedanken reden will, dem beruͤhrt ſie nur immer den Saum ſeines Kleides. Will ſie ſich an ihn haͤngen: ſoll ich bei jedem Bildchen Ho- mers, Pindars und Horaz erſt nachſehen, wie denn dieſer und jener alte Kuͤnſtler das Figurchen gebil- det: ſoll ich hier lange klotziſche Compilationen durch- laufen, wie es von einer andern Seite ausſehe — hinderndes Saͤumniß! es haͤlt den Dichter auf, und zerſtuͤckt ihn mit ſeinen Erlaͤuterungen; oder dieſer gewaltige Laͤufer reißt ſich los, und eilt zu ſeinem Ziele unaufhaltſam: der Gemmenzaͤhler aber — da liegt er laͤngelang auf dem Ruͤcken! Jnſonderheit bitte ich fuͤr den poetiſchen Juͤng- ling im erſten feurigen Leſen eines Dichters: daß man ihn doch da nicht mit ſchoͤnen Muͤnzerlaͤute- rungen und Gemmeneinſichten in dem poetiſchen Lau- fe ſeiner Einbildungskraft ſtoͤre! daß man ihn doch nicht jeden Augenblick zuruͤck halte, um doch ein Steinchen zu bemerken, und ihn vom ſuͤßen fortwal- lenden Traume ſeiner Lieblingsidee zu wecken, und die unaufhaltſame Ergießung ſeiner Seele augen- blicklich zu verſtopfen. Jch mag nicht Caylus in der Hand haben, wenn ich Homer leſe, und noch weniger wuͤnſchte ich, ihn zur Hand gehabt zu ha- ben, Q 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/253
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/253>, abgerufen am 01.05.2024.