sollten; sie sollen nur für die Schamhaftigkeit entscheiden.
Nicht alle Climata und Nationen setzten also selbst den Vorstellungen und Ausdrücken der Liebe einerlei Schranken. Die hitzigen Morgenländer, die in ihren Gesetzen fast eine Belohnung auf den se- tzen, der in den ersten Zeiten der Wildheit ein ein- sames Frauenzimmer ehrbar gelassen, waren auch in Bildern dieser Art beinahe unbändig. Je mehr sie ihre Schönheiten verschlossen und überschleier- ten: desto unerröthender, Werke und Glieder der Lie- be, insonderheit in der Sprache der Leidenschaft, der Eifersucht, des strafenden Zornes zu nennen. Man nenne ihre Freiheiten aber nicht Freiheiten der Natur, sondern, einer entarteten Natur, eines despotisch-orientalischen Weiberumganges. Mi- chaelis hat bei den Morgenländern dies nicht blos angezeigt a), sondern auch zum Theile erklärt. Er war zu sehr Kenner der orientalischen Natur, als daß er sie blos christlich hätte verdammen, oder ar- tig und wohlanständig darüber verunglimpfen sollen: er entwickelte den Grund ihrer Licenz.
Bei den Römern findet sich nur, auf eine andre Weise, eine Unterdrückung dieser Sittlichkeit, die ich aus ihrem, von jeher, rohem Charakter erkläre: aus dem Kriegerischen, das ihnen zur Natur ward,
aus
a)Lowth de sacra Poesi Hebraeor, Prael. VIII. p. 135.
Kritiſche Waͤlder.
ſollten; ſie ſollen nur fuͤr die Schamhaftigkeit entſcheiden.
Nicht alle Climata und Nationen ſetzten alſo ſelbſt den Vorſtellungen und Ausdruͤcken der Liebe einerlei Schranken. Die hitzigen Morgenlaͤnder, die in ihren Geſetzen faſt eine Belohnung auf den ſe- tzen, der in den erſten Zeiten der Wildheit ein ein- ſames Frauenzimmer ehrbar gelaſſen, waren auch in Bildern dieſer Art beinahe unbaͤndig. Je mehr ſie ihre Schoͤnheiten verſchloſſen und uͤberſchleier- ten: deſto unerroͤthender, Werke und Glieder der Lie- be, inſonderheit in der Sprache der Leidenſchaft, der Eiferſucht, des ſtrafenden Zornes zu nennen. Man nenne ihre Freiheiten aber nicht Freiheiten der Natur, ſondern, einer entarteten Natur, eines deſpotiſch-orientaliſchen Weiberumganges. Mi- chaelis hat bei den Morgenlaͤndern dies nicht blos angezeigt a), ſondern auch zum Theile erklaͤrt. Er war zu ſehr Kenner der orientaliſchen Natur, als daß er ſie blos chriſtlich haͤtte verdammen, oder ar- tig und wohlanſtaͤndig daruͤber verunglimpfen ſollen: er entwickelte den Grund ihrer Licenz.
Bei den Roͤmern findet ſich nur, auf eine andre Weiſe, eine Unterdruͤckung dieſer Sittlichkeit, die ich aus ihrem, von jeher, rohem Charakter erklaͤre: aus dem Kriegeriſchen, das ihnen zur Natur ward,
aus
a)Lowth de ſacra Poeſi Hebræor, Præl. VIII. p. 135.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0164"n="158"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Kritiſche Waͤlder.</hi></fw><lb/>ſollten; ſie ſollen nur fuͤr die Schamhaftigkeit<lb/>
entſcheiden.</p><lb/><p>Nicht alle Climata und Nationen ſetzten alſo<lb/>ſelbſt den Vorſtellungen und Ausdruͤcken der Liebe<lb/>
einerlei Schranken. Die hitzigen Morgenlaͤnder, die<lb/>
in ihren Geſetzen faſt eine Belohnung auf den ſe-<lb/>
tzen, der in den erſten Zeiten der Wildheit ein ein-<lb/>ſames Frauenzimmer ehrbar gelaſſen, waren auch<lb/>
in Bildern dieſer Art beinahe unbaͤndig. Je mehr<lb/>ſie ihre Schoͤnheiten verſchloſſen und uͤberſchleier-<lb/>
ten: deſto unerroͤthender, Werke und Glieder der Lie-<lb/>
be, inſonderheit in der Sprache der Leidenſchaft,<lb/>
der Eiferſucht, des ſtrafenden Zornes zu nennen.<lb/>
Man nenne ihre Freiheiten aber nicht Freiheiten<lb/>
der Natur, ſondern, einer entarteten Natur, eines<lb/>
deſpotiſch-orientaliſchen Weiberumganges. Mi-<lb/>
chaelis hat bei den Morgenlaͤndern dies nicht<lb/>
blos angezeigt <noteplace="foot"n="a)"><hirendition="#aq">Lowth de ſacra Poeſi Hebræor, Præl. VIII.<lb/>
p.</hi> 135.</note>, ſondern auch zum Theile erklaͤrt.<lb/>
Er war zu ſehr Kenner der orientaliſchen Natur, als<lb/>
daß er ſie blos chriſtlich haͤtte verdammen, oder ar-<lb/>
tig und wohlanſtaͤndig daruͤber verunglimpfen ſollen:<lb/>
er entwickelte den Grund ihrer Licenz.</p><lb/><p>Bei den Roͤmern findet ſich nur, auf eine andre<lb/>
Weiſe, eine Unterdruͤckung dieſer Sittlichkeit, die<lb/>
ich aus ihrem, von jeher, rohem Charakter erklaͤre:<lb/>
aus dem Kriegeriſchen, das ihnen zur Natur ward,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">aus</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[158/0164]
Kritiſche Waͤlder.
ſollten; ſie ſollen nur fuͤr die Schamhaftigkeit
entſcheiden.
Nicht alle Climata und Nationen ſetzten alſo
ſelbſt den Vorſtellungen und Ausdruͤcken der Liebe
einerlei Schranken. Die hitzigen Morgenlaͤnder, die
in ihren Geſetzen faſt eine Belohnung auf den ſe-
tzen, der in den erſten Zeiten der Wildheit ein ein-
ſames Frauenzimmer ehrbar gelaſſen, waren auch
in Bildern dieſer Art beinahe unbaͤndig. Je mehr
ſie ihre Schoͤnheiten verſchloſſen und uͤberſchleier-
ten: deſto unerroͤthender, Werke und Glieder der Lie-
be, inſonderheit in der Sprache der Leidenſchaft,
der Eiferſucht, des ſtrafenden Zornes zu nennen.
Man nenne ihre Freiheiten aber nicht Freiheiten
der Natur, ſondern, einer entarteten Natur, eines
deſpotiſch-orientaliſchen Weiberumganges. Mi-
chaelis hat bei den Morgenlaͤndern dies nicht
blos angezeigt a), ſondern auch zum Theile erklaͤrt.
Er war zu ſehr Kenner der orientaliſchen Natur, als
daß er ſie blos chriſtlich haͤtte verdammen, oder ar-
tig und wohlanſtaͤndig daruͤber verunglimpfen ſollen:
er entwickelte den Grund ihrer Licenz.
Bei den Roͤmern findet ſich nur, auf eine andre
Weiſe, eine Unterdruͤckung dieſer Sittlichkeit, die
ich aus ihrem, von jeher, rohem Charakter erklaͤre:
aus dem Kriegeriſchen, das ihnen zur Natur ward,
aus
a) Lowth de ſacra Poeſi Hebræor, Præl. VIII.
p. 135.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/164>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.