ling der menschlichen, nicht blos bürgerlichen, nicht blos artigen Gesellschaft: sie ist näher unsrer Na- tur; und das nur habe ich sagen wollen.
4.
Wie? wenn wir nun jetzt, da wir diese Göt- tinnen der Schamhaftigkeit einiger maßen von Gesichte, oder nach ihren Hüllen wenigstens haben unterscheiden gelernet, uns nach ihnen unter ver- schiednen Völkern, in verschiednen Zeitaltern, um- sehen würden: wie sie da erschienen? -- Mich dünkt, ohne Voraussetzungen hierüber läßt sich kaum von der Schamhaftigkeit eines fremden Volks, ei- ner abgestorbnen Zeit, oder gar fremder Völker, ab- gestorbner Zeiten reden; noch weniger lassen sie sich vergleichen, noch weniger aus einer fremden Scham- zeit beurtheilen. -- Jch wage mich also an ei- nen historischen und geographischen Blick über Zei- ten und Völker -- nicht aber an eine Geographie der Zucht, oder an eine Schamhistorie aller Zeiten.
Wenn bei einem Weibe die wohlbewachte Scham die Führerinn ihrer Tugenden ist, wie Dia- na bei Virgil ihrer Oreaden: wenn, nach der weib- lichen Moral, Schaam und Zucht vorzüglich Tu- gend heißet, und bei manchen auch beinahe die Stel- le aller übrigen Tugenden vertritt: so wird man die- se Empfindung auch eigentlich da wirken sehen, wo
in
Zweites Waͤldchen.
ling der menſchlichen, nicht blos buͤrgerlichen, nicht blos artigen Geſellſchaft: ſie iſt naͤher unſrer Na- tur; und das nur habe ich ſagen wollen.
4.
Wie? wenn wir nun jetzt, da wir dieſe Goͤt- tinnen der Schamhaftigkeit einiger maßen von Geſichte, oder nach ihren Huͤllen wenigſtens haben unterſcheiden gelernet, uns nach ihnen unter ver- ſchiednen Voͤlkern, in verſchiednen Zeitaltern, um- ſehen wuͤrden: wie ſie da erſchienen? — Mich duͤnkt, ohne Vorausſetzungen hieruͤber laͤßt ſich kaum von der Schamhaftigkeit eines fremden Volks, ei- ner abgeſtorbnen Zeit, oder gar fremder Voͤlker, ab- geſtorbner Zeiten reden; noch weniger laſſen ſie ſich vergleichen, noch weniger aus einer fremden Scham- zeit beurtheilen. — Jch wage mich alſo an ei- nen hiſtoriſchen und geographiſchen Blick uͤber Zei- ten und Voͤlker — nicht aber an eine Geographie der Zucht, oder an eine Schamhiſtorie aller Zeiten.
Wenn bei einem Weibe die wohlbewachte Scham die Fuͤhrerinn ihrer Tugenden iſt, wie Dia- na bei Virgil ihrer Oreaden: wenn, nach der weib- lichen Moral, Schaam und Zucht vorzuͤglich Tu- gend heißet, und bei manchen auch beinahe die Stel- le aller uͤbrigen Tugenden vertritt: ſo wird man die- ſe Empfindung auch eigentlich da wirken ſehen, wo
in
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Zweites Waͤldchen.
ling der menſchlichen, nicht blos buͤrgerlichen, nicht
blos artigen Geſellſchaft: ſie iſt naͤher unſrer Na-
tur; und das nur habe ich ſagen wollen.
4.
Wie? wenn wir nun jetzt, da wir dieſe Goͤt-
tinnen der Schamhaftigkeit einiger maßen von
Geſichte, oder nach ihren Huͤllen wenigſtens haben
unterſcheiden gelernet, uns nach ihnen unter ver-
ſchiednen Voͤlkern, in verſchiednen Zeitaltern, um-
ſehen wuͤrden: wie ſie da erſchienen? — Mich
duͤnkt, ohne Vorausſetzungen hieruͤber laͤßt ſich kaum
von der Schamhaftigkeit eines fremden Volks, ei-
ner abgeſtorbnen Zeit, oder gar fremder Voͤlker, ab-
geſtorbner Zeiten reden; noch weniger laſſen ſie ſich
vergleichen, noch weniger aus einer fremden Scham-
zeit beurtheilen. — Jch wage mich alſo an ei-
nen hiſtoriſchen und geographiſchen Blick uͤber Zei-
ten und Voͤlker — nicht aber an eine Geographie
der Zucht, oder an eine Schamhiſtorie aller Zeiten.
Wenn bei einem Weibe die wohlbewachte
Scham die Fuͤhrerinn ihrer Tugenden iſt, wie Dia-
na bei Virgil ihrer Oreaden: wenn, nach der weib-
lichen Moral, Schaam und Zucht vorzuͤglich Tu-
gend heißet, und bei manchen auch beinahe die Stel-
le aller uͤbrigen Tugenden vertritt: ſo wird man die-
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/161>, abgerufen am 16.02.2025.
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