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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Kritische Wälder.
so mehr zur Schau stellen, und wehe dem! der als-
denn nicht auch gefärbtes Glas hat. Je weniger
man vielleicht eine Tugend inne hat, desto mehr
wird man sich vielleicht im Kanzleistyle dieser Tu-
gend üben: je unzüchtiger man denkt, desto mehr
vielleicht die Keuschheit seines Ohrs schonen, desto
ekler, desto wähliger und üppiger in der Wortwür-
de werden; desto eher nach Zweideutigkeiten ha-
schen. Wer diese am besten kennet, wer diese in ei-
ner Gesellschaft zuerst, und vielleicht einzig und
allein, aufmerkt, und darüber anständig erröthet,
und artig darüber in Unwillen geräth -- artig,
freilich artig und anständig ist dieser schamhafte Un-
wille, ob aber auch deßwegen wirklich und nothwen-
dig, eine Schamröthe der unwissenden Unschuld,
der unwilligen Tugend? Nicht nothwendig!

Jch habe blos den Unterschied der Begriffe,
zwischen Naturempfindung, gesellschaftlicher und
moralischer Schaam entwickelt; und verhülle, wie
Sokrates, da er von der Liebe dithyrambisirte, mein
Gesicht, um keiner von dreien zu nahe zu treten.
Nur eben aus Verehrung will ich die Naturem-
pfindung nicht mit Coquetterie, und die schönste der
Tugenden nicht mit ihrer Nachäfferinn der unzüch-
tigen Ehrbarkeitspedantinn verwechselt haben. Viel-
leicht sind Leser, die auch die Erste von dreien für
einen Gesellschaftstrieb halten, denen widerspreche
ich nicht; sie ist aber alsdenn wenigstens ein Zög-

ling

Kritiſche Waͤlder.
ſo mehr zur Schau ſtellen, und wehe dem! der als-
denn nicht auch gefaͤrbtes Glas hat. Je weniger
man vielleicht eine Tugend inne hat, deſto mehr
wird man ſich vielleicht im Kanzleiſtyle dieſer Tu-
gend uͤben: je unzuͤchtiger man denkt, deſto mehr
vielleicht die Keuſchheit ſeines Ohrs ſchonen, deſto
ekler, deſto waͤhliger und uͤppiger in der Wortwuͤr-
de werden; deſto eher nach Zweideutigkeiten ha-
ſchen. Wer dieſe am beſten kennet, wer dieſe in ei-
ner Geſellſchaft zuerſt, und vielleicht einzig und
allein, aufmerkt, und daruͤber anſtaͤndig erroͤthet,
und artig daruͤber in Unwillen geraͤth — artig,
freilich artig und anſtaͤndig iſt dieſer ſchamhafte Un-
wille, ob aber auch deßwegen wirklich und nothwen-
dig, eine Schamroͤthe der unwiſſenden Unſchuld,
der unwilligen Tugend? Nicht nothwendig!

Jch habe blos den Unterſchied der Begriffe,
zwiſchen Naturempfindung, geſellſchaftlicher und
moraliſcher Schaam entwickelt; und verhuͤlle, wie
Sokrates, da er von der Liebe dithyrambiſirte, mein
Geſicht, um keiner von dreien zu nahe zu treten.
Nur eben aus Verehrung will ich die Naturem-
pfindung nicht mit Coquetterie, und die ſchoͤnſte der
Tugenden nicht mit ihrer Nachaͤfferinn der unzuͤch-
tigen Ehrbarkeitspedantinn verwechſelt haben. Viel-
leicht ſind Leſer, die auch die Erſte von dreien fuͤr
einen Geſellſchaftstrieb halten, denen widerſpreche
ich nicht; ſie iſt aber alsdenn wenigſtens ein Zoͤg-

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[154/0160] Kritiſche Waͤlder. ſo mehr zur Schau ſtellen, und wehe dem! der als- denn nicht auch gefaͤrbtes Glas hat. Je weniger man vielleicht eine Tugend inne hat, deſto mehr wird man ſich vielleicht im Kanzleiſtyle dieſer Tu- gend uͤben: je unzuͤchtiger man denkt, deſto mehr vielleicht die Keuſchheit ſeines Ohrs ſchonen, deſto ekler, deſto waͤhliger und uͤppiger in der Wortwuͤr- de werden; deſto eher nach Zweideutigkeiten ha- ſchen. Wer dieſe am beſten kennet, wer dieſe in ei- ner Geſellſchaft zuerſt, und vielleicht einzig und allein, aufmerkt, und daruͤber anſtaͤndig erroͤthet, und artig daruͤber in Unwillen geraͤth — artig, freilich artig und anſtaͤndig iſt dieſer ſchamhafte Un- wille, ob aber auch deßwegen wirklich und nothwen- dig, eine Schamroͤthe der unwiſſenden Unſchuld, der unwilligen Tugend? Nicht nothwendig! Jch habe blos den Unterſchied der Begriffe, zwiſchen Naturempfindung, geſellſchaftlicher und moraliſcher Schaam entwickelt; und verhuͤlle, wie Sokrates, da er von der Liebe dithyrambiſirte, mein Geſicht, um keiner von dreien zu nahe zu treten. Nur eben aus Verehrung will ich die Naturem- pfindung nicht mit Coquetterie, und die ſchoͤnſte der Tugenden nicht mit ihrer Nachaͤfferinn der unzuͤch- tigen Ehrbarkeitspedantinn verwechſelt haben. Viel- leicht ſind Leſer, die auch die Erſte von dreien fuͤr einen Geſellſchaftstrieb halten, denen widerſpreche ich nicht; ſie iſt aber alsdenn wenigſtens ein Zoͤg- ling

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/160>, abgerufen am 25.11.2024.