Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
aus dem Herzen auf die Wangen, sondern erst aus
eingepflanzten Begriffen ins Herz hinein: sie rich-
tet sich also nach diesen eingepflanzten Begriffen. Da
sie von der Kunst, man nenne diese Erziehung, oder
Lebensart, oder Stuffe der Cultur, oder Geschmack,
sich zu betragen, oder Politesse, oder Galanterie,
oder, wie man wolle -- Jch sage, da sie von der
Kunst einer Gesellschaft Gesetze empfängt, so hat sie
sich auch immer nach der Beschaffenheit, nach dem
Tone der Gesellschaft, nach Zeitalter, Nation,
u. s. w. gestimmet. Sie ist ein Kind der Mode,
und also veränderlich, wie der Geist ihrer Mutter.
Jetzt wird sie in dieser Kleidertracht, in diesem Aus-
drucke, in dieser Stellung beschämt, in welcher sie
kurz voraus nicht beschämt ward, und bald hernach
nicht mehr beschämt seyn wird. Jn dieser Gesell-
schaft wird die deutsche Sprache, in jener die deut-
sche Ehrlichkeit, in dieser der französische Wind, in
jener die französische Sprache, wechselsweise lächerlich
und beschämend, oder anständig. Wer sich in sol-
chen Sachen mit Anständigkeiten brüsten kann,
wird sich auch über solche Unanständigkeiten beschä-
men lassen. Die Scham ist hier ein Geschöpf
des Wahns der Menschen, und muß sich also durch-
aus nach ihrem Schöpfer richten.

Jch habe nur noch eine Unterscheidung nöthig.
Wie diese gesellschaftlich formirte Schaam nicht ei-
gentlich ein Geschöpf der Natur ist; so ist sie auch

nicht

Kritiſche Waͤlder.
aus dem Herzen auf die Wangen, ſondern erſt aus
eingepflanzten Begriffen ins Herz hinein: ſie rich-
tet ſich alſo nach dieſen eingepflanzten Begriffen. Da
ſie von der Kunſt, man nenne dieſe Erziehung, oder
Lebensart, oder Stuffe der Cultur, oder Geſchmack,
ſich zu betragen, oder Politeſſe, oder Galanterie,
oder, wie man wolle — Jch ſage, da ſie von der
Kunſt einer Geſellſchaft Geſetze empfaͤngt, ſo hat ſie
ſich auch immer nach der Beſchaffenheit, nach dem
Tone der Geſellſchaft, nach Zeitalter, Nation,
u. ſ. w. geſtimmet. Sie iſt ein Kind der Mode,
und alſo veraͤnderlich, wie der Geiſt ihrer Mutter.
Jetzt wird ſie in dieſer Kleidertracht, in dieſem Aus-
drucke, in dieſer Stellung beſchaͤmt, in welcher ſie
kurz voraus nicht beſchaͤmt ward, und bald hernach
nicht mehr beſchaͤmt ſeyn wird. Jn dieſer Geſell-
ſchaft wird die deutſche Sprache, in jener die deut-
ſche Ehrlichkeit, in dieſer der franzoͤſiſche Wind, in
jener die franzoͤſiſche Sprache, wechſelsweiſe laͤcherlich
und beſchaͤmend, oder anſtaͤndig. Wer ſich in ſol-
chen Sachen mit Anſtaͤndigkeiten bruͤſten kann,
wird ſich auch uͤber ſolche Unanſtaͤndigkeiten beſchaͤ-
men laſſen. Die Scham iſt hier ein Geſchoͤpf
des Wahns der Menſchen, und muß ſich alſo durch-
aus nach ihrem Schoͤpfer richten.

Jch habe nur noch eine Unterſcheidung noͤthig.
Wie dieſe geſellſchaftlich formirte Schaam nicht ei-
gentlich ein Geſchoͤpf der Natur iſt; ſo iſt ſie auch

nicht
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0158" n="152"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
aus dem Herzen auf die Wangen, &#x017F;ondern er&#x017F;t aus<lb/>
eingepflanzten Begriffen ins Herz hinein: &#x017F;ie rich-<lb/>
tet &#x017F;ich al&#x017F;o nach die&#x017F;en eingepflanzten Begriffen. Da<lb/>
&#x017F;ie von der Kun&#x017F;t, man nenne die&#x017F;e Erziehung, oder<lb/>
Lebensart, oder Stuffe der Cultur, oder Ge&#x017F;chmack,<lb/>
&#x017F;ich zu betragen, oder Polite&#x017F;&#x017F;e, oder Galanterie,<lb/>
oder, wie man wolle &#x2014; Jch &#x017F;age, da &#x017F;ie von der<lb/>
Kun&#x017F;t einer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft Ge&#x017F;etze empfa&#x0364;ngt, &#x017F;o hat &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich auch immer nach der Be&#x017F;chaffenheit, nach dem<lb/>
Tone der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, nach Zeitalter, Nation,<lb/>
u. &#x017F;. w. ge&#x017F;timmet. Sie i&#x017F;t ein Kind der Mode,<lb/>
und al&#x017F;o vera&#x0364;nderlich, wie der Gei&#x017F;t ihrer Mutter.<lb/>
Jetzt wird &#x017F;ie in die&#x017F;er Kleidertracht, in die&#x017F;em Aus-<lb/>
drucke, in die&#x017F;er Stellung be&#x017F;cha&#x0364;mt, in welcher &#x017F;ie<lb/>
kurz voraus nicht be&#x017F;cha&#x0364;mt ward, und bald hernach<lb/>
nicht mehr be&#x017F;cha&#x0364;mt &#x017F;eyn wird. Jn die&#x017F;er Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft wird die deut&#x017F;che Sprache, in jener die deut-<lb/>
&#x017F;che Ehrlichkeit, in die&#x017F;er der franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che Wind, in<lb/>
jener die franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che Sprache, wech&#x017F;elswei&#x017F;e la&#x0364;cherlich<lb/>
und be&#x017F;cha&#x0364;mend, oder an&#x017F;ta&#x0364;ndig. Wer &#x017F;ich in &#x017F;ol-<lb/>
chen Sachen mit An&#x017F;ta&#x0364;ndigkeiten bru&#x0364;&#x017F;ten kann,<lb/>
wird &#x017F;ich auch u&#x0364;ber &#x017F;olche Unan&#x017F;ta&#x0364;ndigkeiten be&#x017F;cha&#x0364;-<lb/>
men la&#x017F;&#x017F;en. Die Scham i&#x017F;t hier ein Ge&#x017F;cho&#x0364;pf<lb/>
des Wahns der Men&#x017F;chen, und muß &#x017F;ich al&#x017F;o durch-<lb/>
aus nach ihrem Scho&#x0364;pfer richten.</p><lb/>
          <p>Jch habe nur noch eine Unter&#x017F;cheidung no&#x0364;thig.<lb/>
Wie die&#x017F;e ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlich formirte Schaam nicht ei-<lb/>
gentlich ein Ge&#x017F;cho&#x0364;pf der Natur i&#x017F;t; &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ie auch<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nicht</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[152/0158] Kritiſche Waͤlder. aus dem Herzen auf die Wangen, ſondern erſt aus eingepflanzten Begriffen ins Herz hinein: ſie rich- tet ſich alſo nach dieſen eingepflanzten Begriffen. Da ſie von der Kunſt, man nenne dieſe Erziehung, oder Lebensart, oder Stuffe der Cultur, oder Geſchmack, ſich zu betragen, oder Politeſſe, oder Galanterie, oder, wie man wolle — Jch ſage, da ſie von der Kunſt einer Geſellſchaft Geſetze empfaͤngt, ſo hat ſie ſich auch immer nach der Beſchaffenheit, nach dem Tone der Geſellſchaft, nach Zeitalter, Nation, u. ſ. w. geſtimmet. Sie iſt ein Kind der Mode, und alſo veraͤnderlich, wie der Geiſt ihrer Mutter. Jetzt wird ſie in dieſer Kleidertracht, in dieſem Aus- drucke, in dieſer Stellung beſchaͤmt, in welcher ſie kurz voraus nicht beſchaͤmt ward, und bald hernach nicht mehr beſchaͤmt ſeyn wird. Jn dieſer Geſell- ſchaft wird die deutſche Sprache, in jener die deut- ſche Ehrlichkeit, in dieſer der franzoͤſiſche Wind, in jener die franzoͤſiſche Sprache, wechſelsweiſe laͤcherlich und beſchaͤmend, oder anſtaͤndig. Wer ſich in ſol- chen Sachen mit Anſtaͤndigkeiten bruͤſten kann, wird ſich auch uͤber ſolche Unanſtaͤndigkeiten beſchaͤ- men laſſen. Die Scham iſt hier ein Geſchoͤpf des Wahns der Menſchen, und muß ſich alſo durch- aus nach ihrem Schoͤpfer richten. Jch habe nur noch eine Unterſcheidung noͤthig. Wie dieſe geſellſchaftlich formirte Schaam nicht ei- gentlich ein Geſchoͤpf der Natur iſt; ſo iſt ſie auch nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/158
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/158>, abgerufen am 27.11.2024.