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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Zweites Wäldchen.
gut! so wird von selbst der Name auch nicht ge-
nannt werden; muß jene, warum nicht auch die-
ser? Michaelis, dieser Philolog von sehr richtigem
Gefühle, hat Stellen aus Morgenländern angeführt,
aus denen ihre Freiheit in Liebesausdrücken erhellet;
er hat aber nicht den Urtheilsspruch über sie gefäl-
let, daß sie deßwegen Leute ohne Ehrbarkeit und
Schaam wären: denn bei ihnen waren einmal sol-
che Redarten, Gleichnisse, Worte, insonderheit in
der Sprache des Affekts, des Zorns, der Eifersucht
nichts Schändliches. Schlimm gnug! wird man
sagen; meinetwegen! schlimm gnug! aber wenn
eine solche freie Offenheit keinen weitern Nutzen hät-
te, so wäre es der, daß neben ihr keine feine Zwei-
deutigkeiten in der Sprache statt fänden. Wie
sollte ein Volk schmeichelnde Feinde, verlarvte
Freunde, listige Diebe brauchen, das sich aus ei-
nem Raube, aus Gewaltthätigkeit nichts machet?
und wie sollte eine Sprache ein geheimes feines ka-
kophaton sorgfältig zu verhüten haben, da es kein
offenbares kakophaton hat, da es in den Schranken
seiner Naturbedürfnisse jedes nennet, was es nen-
nen muß; und nichts weiter nennen will? Wer
wird mehr verstehen wollen, als was der andre sagt,
er hätte ja, wenn dieser mehr hätte sagen wollen, es
gerade aus gesagt!

Es versteht sich, daß ein-solcher Zeitpunkt der
offnen Natursprache Freiheiten haben müsse, die eine

späte-

Zweites Waͤldchen.
gut! ſo wird von ſelbſt der Name auch nicht ge-
nannt werden; muß jene, warum nicht auch die-
ſer? Michaelis, dieſer Philolog von ſehr richtigem
Gefuͤhle, hat Stellen aus Morgenlaͤndern angefuͤhrt,
aus denen ihre Freiheit in Liebesausdruͤcken erhellet;
er hat aber nicht den Urtheilsſpruch uͤber ſie gefaͤl-
let, daß ſie deßwegen Leute ohne Ehrbarkeit und
Schaam waͤren: denn bei ihnen waren einmal ſol-
che Redarten, Gleichniſſe, Worte, inſonderheit in
der Sprache des Affekts, des Zorns, der Eiferſucht
nichts Schaͤndliches. Schlimm gnug! wird man
ſagen; meinetwegen! ſchlimm gnug! aber wenn
eine ſolche freie Offenheit keinen weitern Nutzen haͤt-
te, ſo waͤre es der, daß neben ihr keine feine Zwei-
deutigkeiten in der Sprache ſtatt faͤnden. Wie
ſollte ein Volk ſchmeichelnde Feinde, verlarvte
Freunde, liſtige Diebe brauchen, das ſich aus ei-
nem Raube, aus Gewaltthaͤtigkeit nichts machet?
und wie ſollte eine Sprache ein geheimes feines κα-
κοφατον ſorgfaͤltig zu verhuͤten haben, da es kein
offenbares κακοφατον hat, da es in den Schranken
ſeiner Naturbeduͤrfniſſe jedes nennet, was es nen-
nen muß; und nichts weiter nennen will? Wer
wird mehr verſtehen wollen, als was der andre ſagt,
er haͤtte ja, wenn dieſer mehr haͤtte ſagen wollen, es
gerade aus geſagt!

Es verſteht ſich, daß ein-ſolcher Zeitpunkt der
offnen Naturſprache Freiheiten haben muͤſſe, die eine

ſpaͤte-
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[141/0147] Zweites Waͤldchen. gut! ſo wird von ſelbſt der Name auch nicht ge- nannt werden; muß jene, warum nicht auch die- ſer? Michaelis, dieſer Philolog von ſehr richtigem Gefuͤhle, hat Stellen aus Morgenlaͤndern angefuͤhrt, aus denen ihre Freiheit in Liebesausdruͤcken erhellet; er hat aber nicht den Urtheilsſpruch uͤber ſie gefaͤl- let, daß ſie deßwegen Leute ohne Ehrbarkeit und Schaam waͤren: denn bei ihnen waren einmal ſol- che Redarten, Gleichniſſe, Worte, inſonderheit in der Sprache des Affekts, des Zorns, der Eiferſucht nichts Schaͤndliches. Schlimm gnug! wird man ſagen; meinetwegen! ſchlimm gnug! aber wenn eine ſolche freie Offenheit keinen weitern Nutzen haͤt- te, ſo waͤre es der, daß neben ihr keine feine Zwei- deutigkeiten in der Sprache ſtatt faͤnden. Wie ſollte ein Volk ſchmeichelnde Feinde, verlarvte Freunde, liſtige Diebe brauchen, das ſich aus ei- nem Raube, aus Gewaltthaͤtigkeit nichts machet? und wie ſollte eine Sprache ein geheimes feines κα- κοφατον ſorgfaͤltig zu verhuͤten haben, da es kein offenbares κακοφατον hat, da es in den Schranken ſeiner Naturbeduͤrfniſſe jedes nennet, was es nen- nen muß; und nichts weiter nennen will? Wer wird mehr verſtehen wollen, als was der andre ſagt, er haͤtte ja, wenn dieſer mehr haͤtte ſagen wollen, es gerade aus geſagt! Es verſteht ſich, daß ein-ſolcher Zeitpunkt der offnen Naturſprache Freiheiten haben muͤſſe, die eine ſpaͤte-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/147>, abgerufen am 25.11.2024.