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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Zweites Wäldchen.
steller überhaupt heruntersetzen. Jch wünsche, daß
der Geist der feinern Lebensart, oder warum darf
ich nicht sagen? des züchtigen Christenthums, sich
auch in Schriften zeige, und daß man minder die
Ehrfurcht verläugne, die man der Würde des Pub-
licums schuldig ist -- ein Name, der den Meß-
Schriftstellern unsrer Zeit beinahe so fremde, uto-
pisch und lächerlich geworden, als er, den Griechen,
insonderheit die für Athen, für die Welt und Nach-
welt schrieben, ehrwürdig war. Der moralische
Geist, mit welchem unser Jahrhundert durchdrun-
gen seyn könnte, sollte uns einen moralischen Ver-
derb, den unsre Schrift stiften könne, wichtiger und
gewissenhafter machen, als zehn poetische Schönhei-
ten. -- -- Dies gilt auch, und noch mehr von
Poeten; denn ihr Gift ist süßer, fließt leichter ein,
wirkt länger und stärker. -- --

Auch will ich das nicht gesagt haben, daß man
in Bildung der Jugend über die moralischen Be-
schaffenheiten eines Dichters völlig hinweg, und nur
die poetischen Schönheiten ansehen solle: daß ein Vir-
gil und Catull gleich gute Autoren der Jugend seyn,
und die Priapea etwa die goldenen Sprüche Pytha-
goras abwechseln könnten. Vor wem soll man
mehr Ehrfurcht haben, als vor einer unverdorbnen
Jugendseele! Unter einer Menge beobachtender
Jünglinge ist man vor den Schranken des schärf-
sten Publicums. -- --

Dies

Zweites Waͤldchen.
ſteller uͤberhaupt herunterſetzen. Jch wuͤnſche, daß
der Geiſt der feinern Lebensart, oder warum darf
ich nicht ſagen? des zuͤchtigen Chriſtenthums, ſich
auch in Schriften zeige, und daß man minder die
Ehrfurcht verlaͤugne, die man der Wuͤrde des Pub-
licums ſchuldig iſt — ein Name, der den Meß-
Schriftſtellern unſrer Zeit beinahe ſo fremde, uto-
piſch und laͤcherlich geworden, als er, den Griechen,
inſonderheit die fuͤr Athen, fuͤr die Welt und Nach-
welt ſchrieben, ehrwuͤrdig war. Der moraliſche
Geiſt, mit welchem unſer Jahrhundert durchdrun-
gen ſeyn koͤnnte, ſollte uns einen moraliſchen Ver-
derb, den unſre Schrift ſtiften koͤnne, wichtiger und
gewiſſenhafter machen, als zehn poetiſche Schoͤnhei-
ten. — — Dies gilt auch, und noch mehr von
Poeten; denn ihr Gift iſt ſuͤßer, fließt leichter ein,
wirkt laͤnger und ſtaͤrker. — —

Auch will ich das nicht geſagt haben, daß man
in Bildung der Jugend uͤber die moraliſchen Be-
ſchaffenheiten eines Dichters voͤllig hinweg, und nur
die poetiſchen Schoͤnheiten anſehen ſolle: daß ein Vir-
gil und Catull gleich gute Autoren der Jugend ſeyn,
und die Priapea etwa die goldenen Spruͤche Pytha-
goras abwechſeln koͤnnten. Vor wem ſoll man
mehr Ehrfurcht haben, als vor einer unverdorbnen
Jugendſeele! Unter einer Menge beobachtender
Juͤnglinge iſt man vor den Schranken des ſchaͤrf-
ſten Publicums. — —

Dies
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[125/0131] Zweites Waͤldchen. ſteller uͤberhaupt herunterſetzen. Jch wuͤnſche, daß der Geiſt der feinern Lebensart, oder warum darf ich nicht ſagen? des zuͤchtigen Chriſtenthums, ſich auch in Schriften zeige, und daß man minder die Ehrfurcht verlaͤugne, die man der Wuͤrde des Pub- licums ſchuldig iſt — ein Name, der den Meß- Schriftſtellern unſrer Zeit beinahe ſo fremde, uto- piſch und laͤcherlich geworden, als er, den Griechen, inſonderheit die fuͤr Athen, fuͤr die Welt und Nach- welt ſchrieben, ehrwuͤrdig war. Der moraliſche Geiſt, mit welchem unſer Jahrhundert durchdrun- gen ſeyn koͤnnte, ſollte uns einen moraliſchen Ver- derb, den unſre Schrift ſtiften koͤnne, wichtiger und gewiſſenhafter machen, als zehn poetiſche Schoͤnhei- ten. — — Dies gilt auch, und noch mehr von Poeten; denn ihr Gift iſt ſuͤßer, fließt leichter ein, wirkt laͤnger und ſtaͤrker. — — Auch will ich das nicht geſagt haben, daß man in Bildung der Jugend uͤber die moraliſchen Be- ſchaffenheiten eines Dichters voͤllig hinweg, und nur die poetiſchen Schoͤnheiten anſehen ſolle: daß ein Vir- gil und Catull gleich gute Autoren der Jugend ſeyn, und die Priapea etwa die goldenen Spruͤche Pytha- goras abwechſeln koͤnnten. Vor wem ſoll man mehr Ehrfurcht haben, als vor einer unverdorbnen Jugendſeele! Unter einer Menge beobachtender Juͤnglinge iſt man vor den Schranken des ſchaͤrf- ſten Publicums. — — Dies

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/131>, abgerufen am 23.11.2024.