Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite
Erstes Wäldchen.
der läßt uns erst Zeit zu überdenken, was Philok-
tet ausgestanden. Man kann den ganzen Auftritt
nicht mehr verkennen, als wenn man ihn blos für
die Pantomine eines körperlichen Schmerzes, und
das ganze Stück nicht mehr verkennen, als wenn
Philoktet da seyn sollte, um über eine Wunde zu
schreien und zu heulen. Der Anfall ist vorüber,
und nach so wenig, als vor -- -- doch ich mag ja
keinen Kommentar über Sophokles schreiben --
wer urtheilen will, lese!

So kann also W. seinen Laokoon mit Philoktet
vergleichen! So kann das Schreien wohl nie, und
am wenigsten bei Homer der Charakterzug eines
Helden gewesen seyn! So ist wohl nie Schreien das
Hauptwerk des Philoktets, um Theilnehmung zu
wirken, und körperlicher Schmerz nie die Hauptidee
eines Drama! So hat das Schauspiel gewiß seine
eigne schöne Natur gleichsam, und genaue Gren-
zen zwischen andern Dichtarten. So kann man
es ohne Sünde eine Reihe handelnder, dichteri-
scher Gemählde
nennen! Wer könnte uns über
diese Materie besser belehren, als -- der Verfasser
des Laokoon und der Dramaturgie selbst, wenn er
sich "über das Maas der Pantomime in der Tra-
gödie, über die eigne schöne Natur des Drama,
und über die besondern Grenzen zwischen Malerei
und Schauspiel besonders erklärte?

6. Der
E 5
Erſtes Waͤldchen.
der laͤßt uns erſt Zeit zu uͤberdenken, was Philok-
tet ausgeſtanden. Man kann den ganzen Auftritt
nicht mehr verkennen, als wenn man ihn blos fuͤr
die Pantomine eines koͤrperlichen Schmerzes, und
das ganze Stuͤck nicht mehr verkennen, als wenn
Philoktet da ſeyn ſollte, um uͤber eine Wunde zu
ſchreien und zu heulen. Der Anfall iſt voruͤber,
und nach ſo wenig, als vor — — doch ich mag ja
keinen Kommentar uͤber Sophokles ſchreiben —
wer urtheilen will, leſe!

So kann alſo W. ſeinen Laokoon mit Philoktet
vergleichen! So kann das Schreien wohl nie, und
am wenigſten bei Homer der Charakterzug eines
Helden geweſen ſeyn! So iſt wohl nie Schreien das
Hauptwerk des Philoktets, um Theilnehmung zu
wirken, und koͤrperlicher Schmerz nie die Hauptidee
eines Drama! So hat das Schauſpiel gewiß ſeine
eigne ſchoͤne Natur gleichſam, und genaue Gren-
zen zwiſchen andern Dichtarten. So kann man
es ohne Suͤnde eine Reihe handelnder, dichteri-
ſcher Gemaͤhlde
nennen! Wer koͤnnte uns uͤber
dieſe Materie beſſer belehren, als — der Verfaſſer
des Laokoon und der Dramaturgie ſelbſt, wenn er
ſich „uͤber das Maas der Pantomime in der Tra-
goͤdie, uͤber die eigne ſchoͤne Natur des Drama,
und uͤber die beſondern Grenzen zwiſchen Malerei
und Schauſpiel beſonders erklaͤrte?

6. Der
E 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <list>
            <item><pb facs="#f0079" n="73"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
der la&#x0364;ßt uns er&#x017F;t Zeit zu u&#x0364;berdenken, was Philok-<lb/>
tet ausge&#x017F;tanden. Man kann den ganzen Auftritt<lb/>
nicht mehr verkennen, als wenn man ihn blos fu&#x0364;r<lb/>
die Pantomine eines ko&#x0364;rperlichen Schmerzes, und<lb/>
das ganze Stu&#x0364;ck nicht mehr verkennen, als wenn<lb/>
Philoktet da &#x017F;eyn &#x017F;ollte, um u&#x0364;ber eine Wunde zu<lb/>
&#x017F;chreien und zu heulen. Der Anfall i&#x017F;t voru&#x0364;ber,<lb/>
und nach &#x017F;o wenig, als vor &#x2014; &#x2014; doch ich mag ja<lb/>
keinen Kommentar u&#x0364;ber Sophokles &#x017F;chreiben &#x2014;<lb/>
wer urtheilen will, le&#x017F;e!</item>
          </list><lb/>
          <p>So kann al&#x017F;o W. &#x017F;einen Laokoon mit Philoktet<lb/>
vergleichen! So kann das Schreien wohl nie, und<lb/>
am wenig&#x017F;ten bei Homer der Charakterzug eines<lb/>
Helden gewe&#x017F;en &#x017F;eyn! So i&#x017F;t wohl nie Schreien das<lb/>
Hauptwerk des Philoktets, um Theilnehmung zu<lb/>
wirken, und ko&#x0364;rperlicher Schmerz nie die Hauptidee<lb/>
eines Drama! So hat das Schau&#x017F;piel gewiß &#x017F;eine<lb/>
eigne <hi rendition="#fr">&#x017F;cho&#x0364;ne Natur</hi> gleich&#x017F;am, und genaue Gren-<lb/>
zen zwi&#x017F;chen andern Dichtarten. So kann man<lb/>
es ohne Su&#x0364;nde eine Reihe <hi rendition="#fr">handelnder, dichteri-<lb/>
&#x017F;cher Gema&#x0364;hlde</hi> nennen! Wer ko&#x0364;nnte uns u&#x0364;ber<lb/>
die&#x017F;e Materie be&#x017F;&#x017F;er belehren, als &#x2014; der Verfa&#x017F;&#x017F;er<lb/>
des Laokoon und der Dramaturgie &#x017F;elb&#x017F;t, wenn er<lb/>
&#x017F;ich &#x201E;u&#x0364;ber das Maas der Pantomime in der Tra-<lb/>
go&#x0364;die, u&#x0364;ber die eigne <hi rendition="#fr">&#x017F;cho&#x0364;ne Natur</hi> des Drama,<lb/>
und u&#x0364;ber die be&#x017F;ondern Grenzen zwi&#x017F;chen Malerei<lb/>
und Schau&#x017F;piel be&#x017F;onders erkla&#x0364;rte?</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">E 5</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">6. Der</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0079] Erſtes Waͤldchen. der laͤßt uns erſt Zeit zu uͤberdenken, was Philok- tet ausgeſtanden. Man kann den ganzen Auftritt nicht mehr verkennen, als wenn man ihn blos fuͤr die Pantomine eines koͤrperlichen Schmerzes, und das ganze Stuͤck nicht mehr verkennen, als wenn Philoktet da ſeyn ſollte, um uͤber eine Wunde zu ſchreien und zu heulen. Der Anfall iſt voruͤber, und nach ſo wenig, als vor — — doch ich mag ja keinen Kommentar uͤber Sophokles ſchreiben — wer urtheilen will, leſe! So kann alſo W. ſeinen Laokoon mit Philoktet vergleichen! So kann das Schreien wohl nie, und am wenigſten bei Homer der Charakterzug eines Helden geweſen ſeyn! So iſt wohl nie Schreien das Hauptwerk des Philoktets, um Theilnehmung zu wirken, und koͤrperlicher Schmerz nie die Hauptidee eines Drama! So hat das Schauſpiel gewiß ſeine eigne ſchoͤne Natur gleichſam, und genaue Gren- zen zwiſchen andern Dichtarten. So kann man es ohne Suͤnde eine Reihe handelnder, dichteri- ſcher Gemaͤhlde nennen! Wer koͤnnte uns uͤber dieſe Materie beſſer belehren, als — der Verfaſſer des Laokoon und der Dramaturgie ſelbſt, wenn er ſich „uͤber das Maas der Pantomime in der Tra- goͤdie, uͤber die eigne ſchoͤne Natur des Drama, und uͤber die beſondern Grenzen zwiſchen Malerei und Schauſpiel beſonders erklaͤrte? 6. Der E 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/79
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/79>, abgerufen am 10.05.2024.