Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
Anblick Philoktets ist meinem Gesichte unausstehlich,
so bald ich es denke, daß er der leidende Philoktet ist.
Blos eine Fechterseele kann in dieser Jllusion des
körperlichen Schmerzes, wie an jenem sterbenden
Fechter, studiren wollen: wie viel Seele noch in
ihm sey? Blos ein Unmensch kann, nach der Fabel
von Michael Angelo, einen Menschen kreuzigen, um
zu sehen, wie er stirbt.

Herr Lessing mag sagen a), daß "nichts betrüg-
"licher sey, als allgemeine Gesetze für die Empfin-
"dungen geben zu wollen." Hier liegt das Gesetz
in meinem unmittelbaren Gefühle selbst, und zwar
in dem Gefühle, das am weitesten von allgemeinen
Gründen abgehet, das mit, als einem sympathisi-
renden Thiere, beiwohnt. So bald der leidende
Körper Philoktets mein Hauptaugenmerk ist, so
bleibts, "daß b) je näher der Schauspieler der Na-
"tur kommt, desto empfindlicher Augen und Ohren
"beleidigt werden müssen." Ein Meer unangeneh-
mer Empfindungen wird über mich ergehen, und
kein angenehmer Tropfe mischt sich dazu. Die Vor-
stellung des künstlichen Betruges? -- ist durch die
Jllusion gestört; ich habe nichts, als den Anblick
eines zückenden, mit dem ich beinahe mit zücke, ei-
nes Wimmernden, dessen Ach! mir das Herz durch-
schneidet. Es ist kein Trauerspiel mehr, es ist eine
grausame Pantomime, ein Anblick, Fechterseelen
zu bilden: ich suche die Thüre.

Nun
a) p. 42.
b) p. 32.

Kritiſche Waͤlder.
Anblick Philoktets iſt meinem Geſichte unausſtehlich,
ſo bald ich es denke, daß er der leidende Philoktet iſt.
Blos eine Fechterſeele kann in dieſer Jlluſion des
koͤrperlichen Schmerzes, wie an jenem ſterbenden
Fechter, ſtudiren wollen: wie viel Seele noch in
ihm ſey? Blos ein Unmenſch kann, nach der Fabel
von Michael Angelo, einen Menſchen kreuzigen, um
zu ſehen, wie er ſtirbt.

Herr Leſſing mag ſagen a), daß „nichts betruͤg-
„licher ſey, als allgemeine Geſetze fuͤr die Empfin-
„dungen geben zu wollen.„ Hier liegt das Geſetz
in meinem unmittelbaren Gefuͤhle ſelbſt, und zwar
in dem Gefuͤhle, das am weiteſten von allgemeinen
Gruͤnden abgehet, das mit, als einem ſympathiſi-
renden Thiere, beiwohnt. So bald der leidende
Koͤrper Philoktets mein Hauptaugenmerk iſt, ſo
bleibts, „daß b) je naͤher der Schauſpieler der Na-
„tur kommt, deſto empfindlicher Augen und Ohren
„beleidigt werden muͤſſen.„ Ein Meer unangeneh-
mer Empfindungen wird uͤber mich ergehen, und
kein angenehmer Tropfe miſcht ſich dazu. Die Vor-
ſtellung des kuͤnſtlichen Betruges? — iſt durch die
Jlluſion geſtoͤrt; ich habe nichts, als den Anblick
eines zuͤckenden, mit dem ich beinahe mit zuͤcke, ei-
nes Wimmernden, deſſen Ach! mir das Herz durch-
ſchneidet. Es iſt kein Trauerſpiel mehr, es iſt eine
grauſame Pantomime, ein Anblick, Fechterſeelen
zu bilden: ich ſuche die Thuͤre.

Nun
a) p. 42.
b) p. 32.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0072" n="66"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
Anblick Philoktets i&#x017F;t meinem Ge&#x017F;ichte unaus&#x017F;tehlich,<lb/>
&#x017F;o bald ich es denke, daß er der leidende Philoktet i&#x017F;t.<lb/>
Blos eine Fechter&#x017F;eele kann in die&#x017F;er Jllu&#x017F;ion des<lb/>
ko&#x0364;rperlichen Schmerzes, wie an jenem &#x017F;terbenden<lb/>
Fechter, &#x017F;tudiren wollen: wie viel Seele noch in<lb/>
ihm &#x017F;ey? Blos ein Unmen&#x017F;ch kann, nach der Fabel<lb/>
von Michael Angelo, einen Men&#x017F;chen kreuzigen, um<lb/>
zu &#x017F;ehen, wie er &#x017F;tirbt.</p><lb/>
          <p>Herr Le&#x017F;&#x017F;ing mag &#x017F;agen <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 42.</note>, daß &#x201E;nichts betru&#x0364;g-<lb/>
&#x201E;licher &#x017F;ey, als allgemeine Ge&#x017F;etze fu&#x0364;r die Empfin-<lb/>
&#x201E;dungen geben zu wollen.&#x201E; Hier liegt das Ge&#x017F;etz<lb/>
in meinem unmittelbaren Gefu&#x0364;hle &#x017F;elb&#x017F;t, und zwar<lb/>
in dem Gefu&#x0364;hle, das am weite&#x017F;ten von allgemeinen<lb/>
Gru&#x0364;nden abgehet, das mit, als einem &#x017F;ympathi&#x017F;i-<lb/>
renden Thiere, beiwohnt. So bald der leidende<lb/>
Ko&#x0364;rper Philoktets mein Hauptaugenmerk i&#x017F;t, &#x017F;o<lb/>
bleibts, &#x201E;daß <note place="foot" n="b)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 32.</note> je na&#x0364;her der Schau&#x017F;pieler der Na-<lb/>
&#x201E;tur kommt, de&#x017F;to empfindlicher Augen und Ohren<lb/>
&#x201E;beleidigt werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.&#x201E; Ein Meer unangeneh-<lb/>
mer Empfindungen wird u&#x0364;ber mich ergehen, und<lb/>
kein angenehmer Tropfe mi&#x017F;cht &#x017F;ich dazu. Die Vor-<lb/>
&#x017F;tellung des ku&#x0364;n&#x017F;tlichen Betruges? &#x2014; i&#x017F;t durch die<lb/>
Jllu&#x017F;ion ge&#x017F;to&#x0364;rt; ich habe nichts, als den Anblick<lb/>
eines zu&#x0364;ckenden, mit dem ich beinahe mit zu&#x0364;cke, ei-<lb/>
nes Wimmernden, de&#x017F;&#x017F;en Ach! mir das Herz durch-<lb/>
&#x017F;chneidet. Es i&#x017F;t kein Trauer&#x017F;piel mehr, es i&#x017F;t eine<lb/>
grau&#x017F;ame Pantomime, ein Anblick, Fechter&#x017F;eelen<lb/>
zu bilden: ich &#x017F;uche die Thu&#x0364;re.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Nun</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0072] Kritiſche Waͤlder. Anblick Philoktets iſt meinem Geſichte unausſtehlich, ſo bald ich es denke, daß er der leidende Philoktet iſt. Blos eine Fechterſeele kann in dieſer Jlluſion des koͤrperlichen Schmerzes, wie an jenem ſterbenden Fechter, ſtudiren wollen: wie viel Seele noch in ihm ſey? Blos ein Unmenſch kann, nach der Fabel von Michael Angelo, einen Menſchen kreuzigen, um zu ſehen, wie er ſtirbt. Herr Leſſing mag ſagen a), daß „nichts betruͤg- „licher ſey, als allgemeine Geſetze fuͤr die Empfin- „dungen geben zu wollen.„ Hier liegt das Geſetz in meinem unmittelbaren Gefuͤhle ſelbſt, und zwar in dem Gefuͤhle, das am weiteſten von allgemeinen Gruͤnden abgehet, das mit, als einem ſympathiſi- renden Thiere, beiwohnt. So bald der leidende Koͤrper Philoktets mein Hauptaugenmerk iſt, ſo bleibts, „daß b) je naͤher der Schauſpieler der Na- „tur kommt, deſto empfindlicher Augen und Ohren „beleidigt werden muͤſſen.„ Ein Meer unangeneh- mer Empfindungen wird uͤber mich ergehen, und kein angenehmer Tropfe miſcht ſich dazu. Die Vor- ſtellung des kuͤnſtlichen Betruges? — iſt durch die Jlluſion geſtoͤrt; ich habe nichts, als den Anblick eines zuͤckenden, mit dem ich beinahe mit zuͤcke, ei- nes Wimmernden, deſſen Ach! mir das Herz durch- ſchneidet. Es iſt kein Trauerſpiel mehr, es iſt eine grauſame Pantomime, ein Anblick, Fechterſeelen zu bilden: ich ſuche die Thuͤre. Nun a) p. 42. b) p. 32.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/72
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/72>, abgerufen am 10.05.2024.