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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
er ist ein Thier, wie ich: er ist ein Mensch: der
menschliche Schmerz erschüttert mein Nervengebäu-
de, wie wenn ich ein sterbendes Thier, einen rö-
chelnden Todten, ein gemartertes Wesen sehe, das
wie ich fühlet. Und wo ist nun dieser Eindruck
auch nur im kleinsten Maaße vergnügend, ange-
nehm? Er ist peinlich, schon bei dem Anblicke, bei der
Vorstellung, ganz peinlich. Hier ist im Augenblicke
des Eindruckes an keinen künstlichen Betrug, an
kein Vergnügen der Einbildungskraft zu gedenken:
die Natur, das Thier leidet in mir, denn ich sehe,
ich höre, ein Thier meiner Art leiden.

Und welche Gladiatorseele gehörte dazu, um
ein Stück auszuhalten, in welchem diese Jdee, dieß
Gefühl des körperlichen Schmerzes, Hauptidee,
Hauptgefühl wäre? Jch weiß keinen dritten Fall
außer diesen beiden: daß ich entweder illudiret wer-
de, oder nicht. Jst das erste, ists auch nur ein
Augenblick, daß ich den Schauspieler verkenne, und
einen zückenden schreienden Gequälten sehe; wehe
mir! es fährt mir durch die Nerven! Jch kann den
künstlichen Betrüger, der sich mir zum Vergnügen,
dem Augenscheine nach, aufhängen wollte, keinen
Augenblick mehr sehen, so bald der Betrug schwin-
det, so bald er wirklich worget. Jch kann den Seil-
tänzer keinen Augenblick mehr sehen, so bald ich ihn
fallen, in das unterliegende Schwert stürzen sehe,
so bald er mit zerschlagnem Fusse da liegt. Der

An-
E

Erſtes Waͤldchen.
er iſt ein Thier, wie ich: er iſt ein Menſch: der
menſchliche Schmerz erſchuͤttert mein Nervengebaͤu-
de, wie wenn ich ein ſterbendes Thier, einen roͤ-
chelnden Todten, ein gemartertes Weſen ſehe, das
wie ich fuͤhlet. Und wo iſt nun dieſer Eindruck
auch nur im kleinſten Maaße vergnuͤgend, ange-
nehm? Er iſt peinlich, ſchon bei dem Anblicke, bei der
Vorſtellung, ganz peinlich. Hier iſt im Augenblicke
des Eindruckes an keinen kuͤnſtlichen Betrug, an
kein Vergnuͤgen der Einbildungskraft zu gedenken:
die Natur, das Thier leidet in mir, denn ich ſehe,
ich hoͤre, ein Thier meiner Art leiden.

Und welche Gladiatorſeele gehoͤrte dazu, um
ein Stuͤck auszuhalten, in welchem dieſe Jdee, dieß
Gefuͤhl des koͤrperlichen Schmerzes, Hauptidee,
Hauptgefuͤhl waͤre? Jch weiß keinen dritten Fall
außer dieſen beiden: daß ich entweder illudiret wer-
de, oder nicht. Jſt das erſte, iſts auch nur ein
Augenblick, daß ich den Schauſpieler verkenne, und
einen zuͤckenden ſchreienden Gequaͤlten ſehe; wehe
mir! es faͤhrt mir durch die Nerven! Jch kann den
kuͤnſtlichen Betruͤger, der ſich mir zum Vergnuͤgen,
dem Augenſcheine nach, aufhaͤngen wollte, keinen
Augenblick mehr ſehen, ſo bald der Betrug ſchwin-
det, ſo bald er wirklich worget. Jch kann den Seil-
taͤnzer keinen Augenblick mehr ſehen, ſo bald ich ihn
fallen, in das unterliegende Schwert ſtuͤrzen ſehe,
ſo bald er mit zerſchlagnem Fuſſe da liegt. Der

An-
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[65/0071] Erſtes Waͤldchen. er iſt ein Thier, wie ich: er iſt ein Menſch: der menſchliche Schmerz erſchuͤttert mein Nervengebaͤu- de, wie wenn ich ein ſterbendes Thier, einen roͤ- chelnden Todten, ein gemartertes Weſen ſehe, das wie ich fuͤhlet. Und wo iſt nun dieſer Eindruck auch nur im kleinſten Maaße vergnuͤgend, ange- nehm? Er iſt peinlich, ſchon bei dem Anblicke, bei der Vorſtellung, ganz peinlich. Hier iſt im Augenblicke des Eindruckes an keinen kuͤnſtlichen Betrug, an kein Vergnuͤgen der Einbildungskraft zu gedenken: die Natur, das Thier leidet in mir, denn ich ſehe, ich hoͤre, ein Thier meiner Art leiden. Und welche Gladiatorſeele gehoͤrte dazu, um ein Stuͤck auszuhalten, in welchem dieſe Jdee, dieß Gefuͤhl des koͤrperlichen Schmerzes, Hauptidee, Hauptgefuͤhl waͤre? Jch weiß keinen dritten Fall außer dieſen beiden: daß ich entweder illudiret wer- de, oder nicht. Jſt das erſte, iſts auch nur ein Augenblick, daß ich den Schauſpieler verkenne, und einen zuͤckenden ſchreienden Gequaͤlten ſehe; wehe mir! es faͤhrt mir durch die Nerven! Jch kann den kuͤnſtlichen Betruͤger, der ſich mir zum Vergnuͤgen, dem Augenſcheine nach, aufhaͤngen wollte, keinen Augenblick mehr ſehen, ſo bald der Betrug ſchwin- det, ſo bald er wirklich worget. Jch kann den Seil- taͤnzer keinen Augenblick mehr ſehen, ſo bald ich ihn fallen, in das unterliegende Schwert ſtuͤrzen ſehe, ſo bald er mit zerſchlagnem Fuſſe da liegt. Der An- E

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/71>, abgerufen am 27.11.2024.