[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. Tragödie wäre, einige von Hr. L. angegebene Mit-tel wenig auf mich gewirkt hätten. Der Eindruck des körperlichen Schmerzes ist viel zu verworren und körperlich gleichsam, als daß er z. E. der Fra- ge Platz ließe a): wo sitzt der Schmerz? außen oder innen? wie sieht die Wunde aus? was für ein Gift wirkt darinnen? Wäre die Vorstellung deskörperli- chen Schmerzes so schwach, um durch solche Sa- chen verstärkt werden zu müssen, so ist die Wirkung des Theaters verlohren: so ists besser, daß ich hin- gehe, um die Wunde selbst chirurgisch zu besichtigen. Nein! theatralisch sey die Jdee des Schmerzes, und ich mag also auch nichts, als theatralische Ver- stärkung -- von fern, aus den gezogenen Minen, aus Tönen des Jammers, will ich, wenn Schmerz die Hauptidee des Stücks ist, ihn kennen lernen, und denn ists mir wohl beinahe gleich, worüber man schreie, und sich geberde? ob über einen lahmen Fuß, oder über eine Wunde im Jnnern der Brust. Der Kunstrichter verliert alles, wenn er aus der theatra- lischen Anschauung weichet, und uns zur Verstär- kung, zur Glaubwürdigkeit derselben den Attest ei- nes Wundarztes geben ließe -- -- was es für eine Krankheit, daß es eine wirkliche Wunde, daß es ein Gift sey, das wohl so viel Schmerzen erregen könne. Sophokles habe so etwas überdacht, oder nicht überdacht: gnug, wenn so etwas auf mich wirken müs- se, a) p. 33. 34.
Erſtes Waͤldchen. Tragoͤdie waͤre, einige von Hr. L. angegebene Mit-tel wenig auf mich gewirkt haͤtten. Der Eindruck des koͤrperlichen Schmerzes iſt viel zu verworren und koͤrperlich gleichſam, als daß er z. E. der Fra- ge Platz ließe a): wo ſitzt der Schmerz? außen oder innen? wie ſieht die Wunde aus? was fuͤr ein Gift wirkt darinnen? Waͤre die Vorſtellung deskoͤrperli- chen Schmerzes ſo ſchwach, um durch ſolche Sa- chen verſtaͤrkt werden zu muͤſſen, ſo iſt die Wirkung des Theaters verlohren: ſo iſts beſſer, daß ich hin- gehe, um die Wunde ſelbſt chirurgiſch zu beſichtigen. Nein! theatraliſch ſey die Jdee des Schmerzes, und ich mag alſo auch nichts, als theatraliſche Ver- ſtaͤrkung — von fern, aus den gezogenen Minen, aus Toͤnen des Jammers, will ich, wenn Schmerz die Hauptidee des Stuͤcks iſt, ihn kennen lernen, und denn iſts mir wohl beinahe gleich, woruͤber man ſchreie, und ſich geberde? ob uͤber einen lahmen Fuß, oder uͤber eine Wunde im Jnnern der Bruſt. Der Kunſtrichter verliert alles, wenn er aus der theatra- liſchen Anſchauung weichet, und uns zur Verſtaͤr- kung, zur Glaubwuͤrdigkeit derſelben den Atteſt ei- nes Wundarztes geben ließe — — was es fuͤr eine Krankheit, daß es eine wirkliche Wunde, daß es ein Gift ſey, das wohl ſo viel Schmerzen erregen koͤnne. Sophokles habe ſo etwas uͤberdacht, oder nicht uͤberdacht: gnug, wenn ſo etwas auf mich wirken muͤſ- ſe, a) p. 33. 34.
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Erſtes Waͤldchen.
Tragoͤdie waͤre, einige von Hr. L. angegebene Mit-
tel wenig auf mich gewirkt haͤtten. Der Eindruck
des koͤrperlichen Schmerzes iſt viel zu verworren
und koͤrperlich gleichſam, als daß er z. E. der Fra-
ge Platz ließe a): wo ſitzt der Schmerz? außen oder
innen? wie ſieht die Wunde aus? was fuͤr ein Gift
wirkt darinnen? Waͤre die Vorſtellung deskoͤrperli-
chen Schmerzes ſo ſchwach, um durch ſolche Sa-
chen verſtaͤrkt werden zu muͤſſen, ſo iſt die Wirkung
des Theaters verlohren: ſo iſts beſſer, daß ich hin-
gehe, um die Wunde ſelbſt chirurgiſch zu beſichtigen.
Nein! theatraliſch ſey die Jdee des Schmerzes,
und ich mag alſo auch nichts, als theatraliſche Ver-
ſtaͤrkung — von fern, aus den gezogenen Minen,
aus Toͤnen des Jammers, will ich, wenn Schmerz
die Hauptidee des Stuͤcks iſt, ihn kennen lernen,
und denn iſts mir wohl beinahe gleich, woruͤber man
ſchreie, und ſich geberde? ob uͤber einen lahmen Fuß,
oder uͤber eine Wunde im Jnnern der Bruſt. Der
Kunſtrichter verliert alles, wenn er aus der theatra-
liſchen Anſchauung weichet, und uns zur Verſtaͤr-
kung, zur Glaubwuͤrdigkeit derſelben den Atteſt ei-
nes Wundarztes geben ließe — — was es fuͤr
eine Krankheit, daß es eine wirkliche Wunde, daß
es ein Gift ſey, das wohl ſo viel Schmerzen erregen
koͤnne. Sophokles habe ſo etwas uͤberdacht, oder nicht
uͤberdacht: gnug, wenn ſo etwas auf mich wirken muͤſ-
ſe,
a) p. 33. 34.
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