[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. also mit Auge und Geist in die atheniensische Büh-ne. Der Schauplatz öffnet sich a): ein Ufer ohne die Spur eines Menschen: eine einsame unbewohn- te Jnsel mitten in den Wellen des Meers: -- wie sind diese Reisende dahin verschlagen? was wird in dieser wüsten Einöde vorgehen? -- Hier, hören wir, ist Philoktet, der berühmte Sohn Pöans: Elen- der Einsamer! der menschlichen Gesellschaft völlig beraubt, hier zur ewigen Einsamkeit verbannet -- wie wird er seine Tage hinbringen? -- Und er ist krank -- krank am Fuße mit einem faulenden Ge- schwüre! -- Noch ärmerer Einsiedler! wer wird dich hier pflegen, dir Speise schaffen, dich reinigen und verbinden? -- und wie bist du hergekommen? ach! ausgesetzt -- ohne Barmherzigkeit, ohne Hül- fe -- und wegen eines Verbrechens, wegen seines Eigensinns? Nein, wegen seines barmenden Ge- schreies! Ach! die Unmenschen, was kann der Kran- ke, der Elende anders, als weinen, als schreien? und selbst diese Linderung ihm nicht zu gönnen, diese kleine Ungemächlichkeit nicht zu ertragen, ihn aus- zusetzen! Wer hat ihn ausgesetzt? die Griechen, sein Volk, seine Gefährten -- vielleicht geschahe es durch Einen Boshaften? Nein, auf Befehl der griechischen Heerführer vom -- Ulysses selbst. Und eben dieser Ulysses kann uns so etwas, so kalt erzäh- len, so lau abbrechen, er darf noch die Jnsel sehen, er a) Sophocl. Philoct. Act. l.
Kritiſche Waͤlder. alſo mit Auge und Geiſt in die athenienſiſche Buͤh-ne. Der Schauplatz oͤffnet ſich a): ein Ufer ohne die Spur eines Menſchen: eine einſame unbewohn- te Jnſel mitten in den Wellen des Meers: — wie ſind dieſe Reiſende dahin verſchlagen? was wird in dieſer wuͤſten Einoͤde vorgehen? — Hier, hoͤren wir, iſt Philoktet, der beruͤhmte Sohn Poͤans: Elen- der Einſamer! der menſchlichen Geſellſchaft voͤllig beraubt, hier zur ewigen Einſamkeit verbannet — wie wird er ſeine Tage hinbringen? — Und er iſt krank — krank am Fuße mit einem faulenden Ge- ſchwuͤre! — Noch aͤrmerer Einſiedler! wer wird dich hier pflegen, dir Speiſe ſchaffen, dich reinigen und verbinden? — und wie biſt du hergekommen? ach! ausgeſetzt — ohne Barmherzigkeit, ohne Huͤl- fe — und wegen eines Verbrechens, wegen ſeines Eigenſinns? Nein, wegen ſeines barmenden Ge- ſchreies! Ach! die Unmenſchen, was kann der Kran- ke, der Elende anders, als weinen, als ſchreien? und ſelbſt dieſe Linderung ihm nicht zu goͤnnen, dieſe kleine Ungemaͤchlichkeit nicht zu ertragen, ihn aus- zuſetzen! Wer hat ihn ausgeſetzt? die Griechen, ſein Volk, ſeine Gefaͤhrten — vielleicht geſchahe es durch Einen Boshaften? Nein, auf Befehl der griechiſchen Heerfuͤhrer vom — Ulyſſes ſelbſt. Und eben dieſer Ulyſſes kann uns ſo etwas, ſo kalt erzaͤh- len, ſo lau abbrechen, er darf noch die Jnſel ſehen, er a) Sophocl. Philoct. Act. l.
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Kritiſche Waͤlder.
alſo mit Auge und Geiſt in die athenienſiſche Buͤh-
ne. Der Schauplatz oͤffnet ſich a): ein Ufer ohne
die Spur eines Menſchen: eine einſame unbewohn-
te Jnſel mitten in den Wellen des Meers: — wie
ſind dieſe Reiſende dahin verſchlagen? was wird in
dieſer wuͤſten Einoͤde vorgehen? — Hier, hoͤren
wir, iſt Philoktet, der beruͤhmte Sohn Poͤans: Elen-
der Einſamer! der menſchlichen Geſellſchaft voͤllig
beraubt, hier zur ewigen Einſamkeit verbannet —
wie wird er ſeine Tage hinbringen? — Und er iſt
krank — krank am Fuße mit einem faulenden Ge-
ſchwuͤre! — Noch aͤrmerer Einſiedler! wer wird
dich hier pflegen, dir Speiſe ſchaffen, dich reinigen
und verbinden? — und wie biſt du hergekommen?
ach! ausgeſetzt — ohne Barmherzigkeit, ohne Huͤl-
fe — und wegen eines Verbrechens, wegen ſeines
Eigenſinns? Nein, wegen ſeines barmenden Ge-
ſchreies! Ach! die Unmenſchen, was kann der Kran-
ke, der Elende anders, als weinen, als ſchreien? und
ſelbſt dieſe Linderung ihm nicht zu goͤnnen, dieſe
kleine Ungemaͤchlichkeit nicht zu ertragen, ihn aus-
zuſetzen! Wer hat ihn ausgeſetzt? die Griechen,
ſein Volk, ſeine Gefaͤhrten — vielleicht geſchahe
es durch Einen Boshaften? Nein, auf Befehl der
griechiſchen Heerfuͤhrer vom — Ulyſſes ſelbſt. Und
eben dieſer Ulyſſes kann uns ſo etwas, ſo kalt erzaͤh-
len, ſo lau abbrechen, er darf noch die Jnſel ſehen,
er
a) Sophocl. Philoct. Act. l.
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