gewicht zwischen Tapferkeit und Empfindung; und dieß, dünkt mich, ist überall das Zeitalter zwischen der Barbarei eines Volks, und zwischen der zah- men Sittlichkeit, dem höflichen Schein, in dem wir leben. Jn diesem stirbt auf gewisse Art Vaterland, Ehre, Geschlecht, Freund und Mensch ab, und mithin erstirbt auch hierum das Gefühl, und die Aeußerung desselben, die Thräne.
Aber die Empfindung des körperlichen Schmer- zes, kann die sich ändern? Ein Schlag bleibt ein Schlag, Wunde bleibt Wunde, eine Ohrfeige eine Ohrfeige, und wird es, so lange die Welt steht, bleiben. Es ist also nicht der nämliche Fall dieser mit den vorigen Empfindungen, und unser weichli- cher Zustand hat vielmehr das Gefühl der Schmer- zen unendlich, und oft zum Weibischen erhöhet. Hiernach muß es also umgekehrt seyn, daß, wenn ein griechischer Theseus, Herkules, Philoktetes, einen Schmerz, eine Wunde einmal fühlet, so müßte ein Sybarit unsrer Zeit ihn siebenfach fühlen, und wenn also "das Schreien der natürliche Ausdruck "des körperlichen Schmerzes, das Recht der leiden- "den Natur, ein Charakterzug griechischer Helden "seyn soll," so folgt, daß, wenn jener Einmal, der unsre bei siebenhaft heftigerer Empfindung auch sie- benfach stärker schreien dörfte und sollte, um -- ein Held des Homers zu seyn.
Wie
Kritiſche Waͤlder.
gewicht zwiſchen Tapferkeit und Empfindung; und dieß, duͤnkt mich, iſt uͤberall das Zeitalter zwiſchen der Barbarei eines Volks, und zwiſchen der zah- men Sittlichkeit, dem hoͤflichen Schein, in dem wir leben. Jn dieſem ſtirbt auf gewiſſe Art Vaterland, Ehre, Geſchlecht, Freund und Menſch ab, und mithin erſtirbt auch hierum das Gefuͤhl, und die Aeußerung deſſelben, die Thraͤne.
Aber die Empfindung des koͤrperlichen Schmer- zes, kann die ſich aͤndern? Ein Schlag bleibt ein Schlag, Wunde bleibt Wunde, eine Ohrfeige eine Ohrfeige, und wird es, ſo lange die Welt ſteht, bleiben. Es iſt alſo nicht der naͤmliche Fall dieſer mit den vorigen Empfindungen, und unſer weichli- cher Zuſtand hat vielmehr das Gefuͤhl der Schmer- zen unendlich, und oft zum Weibiſchen erhoͤhet. Hiernach muß es alſo umgekehrt ſeyn, daß, wenn ein griechiſcher Theſeus, Herkules, Philoktetes, einen Schmerz, eine Wunde einmal fuͤhlet, ſo muͤßte ein Sybarit unſrer Zeit ihn ſiebenfach fuͤhlen, und wenn alſo „das Schreien der natuͤrliche Ausdruck „des koͤrperlichen Schmerzes, das Recht der leiden- „den Natur, ein Charakterzug griechiſcher Helden „ſeyn ſoll,„ ſo folgt, daß, wenn jener Einmal, der unſre bei ſiebenhaft heftigerer Empfindung auch ſie- benfach ſtaͤrker ſchreien doͤrfte und ſollte, um — ein Held des Homers zu ſeyn.
Wie
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Kritiſche Waͤlder.
gewicht zwiſchen Tapferkeit und Empfindung; und
dieß, duͤnkt mich, iſt uͤberall das Zeitalter zwiſchen
der Barbarei eines Volks, und zwiſchen der zah-
men Sittlichkeit, dem hoͤflichen Schein, in dem wir
leben. Jn dieſem ſtirbt auf gewiſſe Art Vaterland,
Ehre, Geſchlecht, Freund und Menſch ab, und
mithin erſtirbt auch hierum das Gefuͤhl, und die
Aeußerung deſſelben, die Thraͤne.
Aber die Empfindung des koͤrperlichen Schmer-
zes, kann die ſich aͤndern? Ein Schlag bleibt ein
Schlag, Wunde bleibt Wunde, eine Ohrfeige eine
Ohrfeige, und wird es, ſo lange die Welt ſteht,
bleiben. Es iſt alſo nicht der naͤmliche Fall dieſer
mit den vorigen Empfindungen, und unſer weichli-
cher Zuſtand hat vielmehr das Gefuͤhl der Schmer-
zen unendlich, und oft zum Weibiſchen erhoͤhet.
Hiernach muß es alſo umgekehrt ſeyn, daß, wenn ein
griechiſcher Theſeus, Herkules, Philoktetes, einen
Schmerz, eine Wunde einmal fuͤhlet, ſo muͤßte ein
Sybarit unſrer Zeit ihn ſiebenfach fuͤhlen, und
wenn alſo „das Schreien der natuͤrliche Ausdruck
„des koͤrperlichen Schmerzes, das Recht der leiden-
„den Natur, ein Charakterzug griechiſcher Helden
„ſeyn ſoll,„ ſo folgt, daß, wenn jener Einmal, der
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/58>, abgerufen am 17.07.2024.
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