[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. foderte, und bildete; konnte doch eher eine mensch-liche Thräne hervorlocken, als z. E. ein General nach der Taktik, ein Minister, ein Civilist, ein Litterator der neuern Welt, wenn er nichts als die- ses ist; denn bei dem Verlust aller seiner Geschick- lichkeiten und Tugenden sind die wenigsten mensch- lich, und was ist im Stande, menschliche Empfin- dungen zu erregen, als -- -- Menschheit. Wo bleiben nun die Namen ohne Thaten, die Rangstel- len ohne wirkliche Verdienste, die Bemühungen und Aemter unsrer Zeit ohne Geist und Leben, die Religionen ohne menschliche Tugend -- wo blei- ben alle sämtliche gelehrte, reiche, vornehme, an- dächtige Narren unsrer bürgerlichen und feinen und allerchristlichsten Welt, sind die wohl einer menschlichen Thräne werth? Endlich, als man den wahren Gebrauch des und
Kritiſche Waͤlder. foderte, und bildete; konnte doch eher eine menſch-liche Thraͤne hervorlocken, als z. E. ein General nach der Taktik, ein Miniſter, ein Civiliſt, ein Litterator der neuern Welt, wenn er nichts als die- ſes iſt; denn bei dem Verluſt aller ſeiner Geſchick- lichkeiten und Tugenden ſind die wenigſten menſch- lich, und was iſt im Stande, menſchliche Empfin- dungen zu erregen, als — — Menſchheit. Wo bleiben nun die Namen ohne Thaten, die Rangſtel- len ohne wirkliche Verdienſte, die Bemuͤhungen und Aemter unſrer Zeit ohne Geiſt und Leben, die Religionen ohne menſchliche Tugend — wo blei- ben alle ſaͤmtliche gelehrte, reiche, vornehme, an- daͤchtige Narren unſrer buͤrgerlichen und feinen und allerchriſtlichſten Welt, ſind die wohl einer menſchlichen Thraͤne werth? Endlich, als man den wahren Gebrauch des und
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Kritiſche Waͤlder.
foderte, und bildete; konnte doch eher eine menſch-
liche Thraͤne hervorlocken, als z. E. ein General
nach der Taktik, ein Miniſter, ein Civiliſt, ein
Litterator der neuern Welt, wenn er nichts als die-
ſes iſt; denn bei dem Verluſt aller ſeiner Geſchick-
lichkeiten und Tugenden ſind die wenigſten menſch-
lich, und was iſt im Stande, menſchliche Empfin-
dungen zu erregen, als — — Menſchheit. Wo
bleiben nun die Namen ohne Thaten, die Rangſtel-
len ohne wirkliche Verdienſte, die Bemuͤhungen
und Aemter unſrer Zeit ohne Geiſt und Leben, die
Religionen ohne menſchliche Tugend — wo blei-
ben alle ſaͤmtliche gelehrte, reiche, vornehme, an-
daͤchtige Narren unſrer buͤrgerlichen und feinen und
allerchriſtlichſten Welt, ſind die wohl einer
menſchlichen Thraͤne werth?
Endlich, als man den wahren Gebrauch des
menſchlichen Lebens, und der Gluͤckſeligkeit vielleicht
beſſer, obgleich nicht aus Predigten und Moralen,
kannte, und das Leben mehr genoß, und menſchli-
cher anwandte, natuͤrlich waren da auch die bittern
Zufaͤlle des Lebens ruͤhrender. Der Tod eines
Juͤnglinges, der ſein Leben nicht genoſſen, der in
der Bluͤthe ſeiner Jahre dahin faͤllt, wie ein junger
ſchoͤner Pappelbaum — ein ſolcher Fall iſt bei
Homer die Veranlaſſung zu Bildern, die auch in
dem Heldenauge eine zarte Thraͤne der Menſchlich-
keit erwecken koͤnnen, weil ſie — menſchlich ſind:
und
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Zitationshilfe: | [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/56>, abgerufen am 17.02.2025. |