Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
setzt war; die kleinste Untreue gegen ihren Freund
machte sie zum Spott ihres Geschlechts, und zum
Abscheu der Stadt; sie waren nach allen Gesetzen
verbunden, seinen Tod zu rächen, und die letzte
Stimme des Einen, vielleicht gefangenen, vielleicht
getödteten Freundes war -- an seinen Freund, an
den Begleiter seines Lebens. Da also gab es einen
Herkules und Jolaus, einen Aeneas und Acha-
tes,
einen Orestes und Pylades, einen Theseus
und Pirithous, einen David und Jonathan:
mithin eine Quelle des Gefühls der Freundschaft für
den Helden, die jetzt für den bloßen Bürger und
Gesellschafter beinahe versiegen ist. Da also, da
flossen, wenn der Tod, wenn ein Unglück die tren-
nete, die das Leben nicht trennen konnte, so edle Hel-
denthränen, die der Held Achilles um seinen Pa-
troklus, wie ein Pylades um seinen Orestes, wie
der Held David um seinen Jonathan weinten.

Nun laßt die Welt zu einer solchen Freund-
schaft verschwinden: die Art des Lebens mache nicht
mehr zween solche Begleiter im Leben und Tode
nöthig: das Feierliche bei solchen Verbindungen
lasse nach: der Beruf der Menschen zu arbeiten, zu
Lebensarten werde verschiedner und gleichsam unstä-
ter: der Zustand der Bürger und Mitbürger ruhi-
ger: jeder sich selbst sein Gott in der Welt -- wo
wird alsdenn ein Kriegshaufen von Liebhabern, von
männlichen Geliebten, ein böotischer ieros lokhos

noch

Kritiſche Waͤlder.
ſetzt war; die kleinſte Untreue gegen ihren Freund
machte ſie zum Spott ihres Geſchlechts, und zum
Abſcheu der Stadt; ſie waren nach allen Geſetzen
verbunden, ſeinen Tod zu raͤchen, und die letzte
Stimme des Einen, vielleicht gefangenen, vielleicht
getoͤdteten Freundes war — an ſeinen Freund, an
den Begleiter ſeines Lebens. Da alſo gab es einen
Herkules und Jolaus, einen Aeneas und Acha-
tes,
einen Oreſtes und Pylades, einen Theſeus
und Pirithous, einen David und Jonathan:
mithin eine Quelle des Gefuͤhls der Freundſchaft fuͤr
den Helden, die jetzt fuͤr den bloßen Buͤrger und
Geſellſchafter beinahe verſiegen iſt. Da alſo, da
floſſen, wenn der Tod, wenn ein Ungluͤck die tren-
nete, die das Leben nicht trennen konnte, ſo edle Hel-
denthraͤnen, die der Held Achilles um ſeinen Pa-
troklus, wie ein Pylades um ſeinen Oreſtes, wie
der Held David um ſeinen Jonathan weinten.

Nun laßt die Welt zu einer ſolchen Freund-
ſchaft verſchwinden: die Art des Lebens mache nicht
mehr zween ſolche Begleiter im Leben und Tode
noͤthig: das Feierliche bei ſolchen Verbindungen
laſſe nach: der Beruf der Menſchen zu arbeiten, zu
Lebensarten werde verſchiedner und gleichſam unſtaͤ-
ter: der Zuſtand der Buͤrger und Mitbuͤrger ruhi-
ger: jeder ſich ſelbſt ſein Gott in der Welt — wo
wird alsdenn ein Kriegshaufen von Liebhabern, von
maͤnnlichen Geliebten, ein boͤotiſcher ιερος λοχος

noch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0052" n="46"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
&#x017F;etzt war; die klein&#x017F;te Untreue gegen ihren Freund<lb/>
machte &#x017F;ie zum Spott ihres Ge&#x017F;chlechts, und zum<lb/>
Ab&#x017F;cheu der Stadt; &#x017F;ie waren nach allen Ge&#x017F;etzen<lb/>
verbunden, &#x017F;einen Tod zu ra&#x0364;chen, und die letzte<lb/>
Stimme des Einen, vielleicht gefangenen, vielleicht<lb/>
geto&#x0364;dteten Freundes war &#x2014; an &#x017F;einen Freund, an<lb/>
den Begleiter &#x017F;eines Lebens. Da al&#x017F;o gab es einen<lb/><hi rendition="#fr">Herkules</hi> und <hi rendition="#fr">Jolaus,</hi> einen <hi rendition="#fr">Aeneas</hi> und <hi rendition="#fr">Acha-<lb/>
tes,</hi> einen <hi rendition="#fr">Ore&#x017F;tes</hi> und <hi rendition="#fr">Pylades,</hi> einen <hi rendition="#fr">The&#x017F;eus</hi><lb/>
und <hi rendition="#fr">Pirithous,</hi> einen <hi rendition="#fr">David</hi> und <hi rendition="#fr">Jonathan:</hi><lb/>
mithin eine Quelle des Gefu&#x0364;hls der Freund&#x017F;chaft fu&#x0364;r<lb/>
den <hi rendition="#fr">Helden,</hi> die jetzt fu&#x0364;r den bloßen Bu&#x0364;rger und<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chafter beinahe ver&#x017F;iegen i&#x017F;t. Da al&#x017F;o, da<lb/>
flo&#x017F;&#x017F;en, wenn der Tod, wenn ein Unglu&#x0364;ck die tren-<lb/>
nete, die das Leben nicht trennen konnte, &#x017F;o edle Hel-<lb/>
denthra&#x0364;nen, die der Held Achilles um &#x017F;einen Pa-<lb/>
troklus, wie ein Pylades um &#x017F;einen Ore&#x017F;tes, wie<lb/>
der Held David um &#x017F;einen Jonathan weinten.</p><lb/>
          <p>Nun laßt die Welt zu einer &#x017F;olchen Freund-<lb/>
&#x017F;chaft ver&#x017F;chwinden: die Art des Lebens mache nicht<lb/>
mehr zween &#x017F;olche Begleiter im Leben und Tode<lb/>
no&#x0364;thig: das Feierliche bei &#x017F;olchen Verbindungen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;e nach: der Beruf der Men&#x017F;chen zu arbeiten, zu<lb/>
Lebensarten werde ver&#x017F;chiedner und gleich&#x017F;am un&#x017F;ta&#x0364;-<lb/>
ter: der Zu&#x017F;tand der Bu&#x0364;rger und Mitbu&#x0364;rger ruhi-<lb/>
ger: jeder &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ein Gott in der Welt &#x2014; wo<lb/>
wird alsdenn ein Kriegshaufen von Liebhabern, von<lb/>
ma&#x0364;nnlichen Geliebten, ein bo&#x0364;oti&#x017F;cher &#x03B9;&#x03B5;&#x03C1;&#x03BF;&#x03C2; &#x03BB;&#x03BF;&#x03C7;&#x03BF;&#x03C2;<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">noch</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0052] Kritiſche Waͤlder. ſetzt war; die kleinſte Untreue gegen ihren Freund machte ſie zum Spott ihres Geſchlechts, und zum Abſcheu der Stadt; ſie waren nach allen Geſetzen verbunden, ſeinen Tod zu raͤchen, und die letzte Stimme des Einen, vielleicht gefangenen, vielleicht getoͤdteten Freundes war — an ſeinen Freund, an den Begleiter ſeines Lebens. Da alſo gab es einen Herkules und Jolaus, einen Aeneas und Acha- tes, einen Oreſtes und Pylades, einen Theſeus und Pirithous, einen David und Jonathan: mithin eine Quelle des Gefuͤhls der Freundſchaft fuͤr den Helden, die jetzt fuͤr den bloßen Buͤrger und Geſellſchafter beinahe verſiegen iſt. Da alſo, da floſſen, wenn der Tod, wenn ein Ungluͤck die tren- nete, die das Leben nicht trennen konnte, ſo edle Hel- denthraͤnen, die der Held Achilles um ſeinen Pa- troklus, wie ein Pylades um ſeinen Oreſtes, wie der Held David um ſeinen Jonathan weinten. Nun laßt die Welt zu einer ſolchen Freund- ſchaft verſchwinden: die Art des Lebens mache nicht mehr zween ſolche Begleiter im Leben und Tode noͤthig: das Feierliche bei ſolchen Verbindungen laſſe nach: der Beruf der Menſchen zu arbeiten, zu Lebensarten werde verſchiedner und gleichſam unſtaͤ- ter: der Zuſtand der Buͤrger und Mitbuͤrger ruhi- ger: jeder ſich ſelbſt ſein Gott in der Welt — wo wird alsdenn ein Kriegshaufen von Liebhabern, von maͤnnlichen Geliebten, ein boͤotiſcher ιερος λοχος noch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/52
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/52>, abgerufen am 27.11.2024.