Wenn der Dichter die Schönheit lieber in Wir- kung, in Bewegung, d. i. reizend vorstellet, so thut ers nicht, damit diese sich bewegende Schönheit dem sich bewegenden Verse entspreche; nicht als wenn jeder Zug der Schilderung, der Form, Gestalt, und nicht Wirkung, nicht Bewegung ist, deßwegen un- poetisch würde a): sondern ich generalisire den Satz lediglich so: "jede Schilderung der Schönheit "wirke energisch" d. i. zu dem Zwecke des Dichters, zu dem sie da ist, und denn während jedem Zuge, den sie liefert. Hiernach möge sich Ariost verant- worten: aber das Lessingsche Gebot: "Schönheit "des Körpers zeige sich bei dem Dichter blos durch "Wirkung, blos durch Bewegung, b)" räumt zu viel auf.
Zu viel selbst in Homer; denn ich weiß wohl nicht, ob bei der ganzen Juno, wenn er sie nicht körperlich, wenn er sie nur durch ein Beiwort schil- dern wollte, kein wirksamerer, kein reizenderer Zug sey, als der, die weißellbogichte Juno, (man er- laube mir das ungeheure Wort!) ob dieser eine Zug der sei, durch den sie an der Handlung Theil neh- me, der durch ihren Körper Handlung bezeichne, u. s. f. So seine schönknieichte Briseis, und seine blauäu- gichte Pallas, und sein breitschulterichter Ajax, und sein geschwindfüßiger Achilles, und seine schönhaa- rige Helena -- wo ist hier Wirkung, Bewegung,
Reiz
a)p. 217.
b) Laok. p. 214.
Erſtes Waͤldchen.
Wenn der Dichter die Schoͤnheit lieber in Wir- kung, in Bewegung, d. i. reizend vorſtellet, ſo thut ers nicht, damit dieſe ſich bewegende Schoͤnheit dem ſich bewegenden Verſe entſpreche; nicht als wenn jeder Zug der Schilderung, der Form, Geſtalt, und nicht Wirkung, nicht Bewegung iſt, deßwegen un- poetiſch wuͤrde a): ſondern ich generaliſire den Satz lediglich ſo: „jede Schilderung der Schoͤnheit „wirke energiſch„ d. i. zu dem Zwecke des Dichters, zu dem ſie da iſt, und denn waͤhrend jedem Zuge, den ſie liefert. Hiernach moͤge ſich Arioſt verant- worten: aber das Leſſingſche Gebot: „Schoͤnheit „des Koͤrpers zeige ſich bei dem Dichter blos durch „Wirkung, blos durch Bewegung, b)„ raͤumt zu viel auf.
Zu viel ſelbſt in Homer; denn ich weiß wohl nicht, ob bei der ganzen Juno, wenn er ſie nicht koͤrperlich, wenn er ſie nur durch ein Beiwort ſchil- dern wollte, kein wirkſamerer, kein reizenderer Zug ſey, als der, die weißellbogichte Juno, (man er- laube mir das ungeheure Wort!) ob dieſer eine Zug der ſei, durch den ſie an der Handlung Theil neh- me, der durch ihren Koͤrper Handlung bezeichne, u. ſ. f. So ſeine ſchoͤnknieichte Briſeis, und ſeine blauaͤu- gichte Pallas, und ſein breitſchulterichter Ajax, und ſein geſchwindfuͤßiger Achilles, und ſeine ſchoͤnhaa- rige Helena — wo iſt hier Wirkung, Bewegung,
Reiz
a)p. 217.
b) Laok. p. 214.
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Erſtes Waͤldchen.
Wenn der Dichter die Schoͤnheit lieber in Wir-
kung, in Bewegung, d. i. reizend vorſtellet, ſo thut
ers nicht, damit dieſe ſich bewegende Schoͤnheit dem
ſich bewegenden Verſe entſpreche; nicht als wenn
jeder Zug der Schilderung, der Form, Geſtalt, und
nicht Wirkung, nicht Bewegung iſt, deßwegen un-
poetiſch wuͤrde a): ſondern ich generaliſire den Satz
lediglich ſo: „jede Schilderung der Schoͤnheit
„wirke energiſch„ d. i. zu dem Zwecke des Dichters,
zu dem ſie da iſt, und denn waͤhrend jedem Zuge,
den ſie liefert. Hiernach moͤge ſich Arioſt verant-
worten: aber das Leſſingſche Gebot: „Schoͤnheit
„des Koͤrpers zeige ſich bei dem Dichter blos durch
„Wirkung, blos durch Bewegung, b)„ raͤumt zu
viel auf.
Zu viel ſelbſt in Homer; denn ich weiß wohl
nicht, ob bei der ganzen Juno, wenn er ſie nicht
koͤrperlich, wenn er ſie nur durch ein Beiwort ſchil-
dern wollte, kein wirkſamerer, kein reizenderer Zug
ſey, als der, die weißellbogichte Juno, (man er-
laube mir das ungeheure Wort!) ob dieſer eine Zug
der ſei, durch den ſie an der Handlung Theil neh-
me, der durch ihren Koͤrper Handlung bezeichne, u. ſ. f.
So ſeine ſchoͤnknieichte Briſeis, und ſeine blauaͤu-
gichte Pallas, und ſein breitſchulterichter Ajax, und
ſein geſchwindfuͤßiger Achilles, und ſeine ſchoͤnhaa-
rige Helena — wo iſt hier Wirkung, Bewegung,
Reiz
a) p. 217.
b) Laok. p. 214.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/245>, abgerufen am 17.02.2025.
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