[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. der unruhige, der fragende Neoptolem, und Philo-ktet, der -- nicht brüllet und tobet, der seinen Schmerz beklemmt, ihn eine große Zeit selbst dem Neoptolem verbergen will, und nur immer zwischen inne mit einem bangen io theoi den Göttern klaget. Und eben diese stumme Scene des Schmerzes, von welcher Wirkung muß sie auf den Zuschauer ge- wesen seyn? Er sieht Philoktet leiden, stumm, nur in einer verzognen Geberde, nur mit einem be- klemmten Ach! leiden; und wer fühlt dieß beklemm- te Ach! nicht mehr, als das brüllende Geschrei ei- nes Mars, der in der Schlacht verwundet, wie zehn tausend Mann, oder warum nicht lieber, wie zehn tausend Ochsen? aufbrüllet? Hier erschrickt, dort fühlet man: mit Philoktet mitleidend bestürzt, als Neoptolemus, banget man, weiß nicht, woran man ist, was man thun, wie man helfen soll? Man tritt auf sein trauriges a a zu ihm: "Wie denn? du leidest! du redest nicht! Warum so ver- schlossen? du wirst gepeiniget? warum seufzest du zu den Göttern? -- Und ein Philoktet antwortet mit verzognem Lächeln, mit einem Gesicht, in wel- chem sich Schmerz und Muth und Freundlichkeit mischen: Jch? Nein! ich empfinde Erleichterung! ich flehe zu den Göttern um glückliche Schiffahrt. Welch ein griechischer Garrik gehöret dazu, den Schmerz und den Muth, die menschliche Empfin- dung und die Heldenseele hier abzuwiegen! Ueber-
Kritiſche Waͤlder. der unruhige, der fragende Neoptolem, und Philo-ktet, der — nicht bruͤllet und tobet, der ſeinen Schmerz beklemmt, ihn eine große Zeit ſelbſt dem Neoptolem verbergen will, und nur immer zwiſchen inne mit einem bangen ιω ϑεοι den Goͤttern klaget. Und eben dieſe ſtumme Scene des Schmerzes, von welcher Wirkung muß ſie auf den Zuſchauer ge- weſen ſeyn? Er ſieht Philoktet leiden, ſtumm, nur in einer verzognen Geberde, nur mit einem be- klemmten Ach! leiden; und wer fuͤhlt dieß beklemm- te Ach! nicht mehr, als das bruͤllende Geſchrei ei- nes Mars, der in der Schlacht verwundet, wie zehn tauſend Mann, oder warum nicht lieber, wie zehn tauſend Ochſen? aufbruͤllet? Hier erſchrickt, dort fuͤhlet man: mit Philoktet mitleidend beſtuͤrzt, als Neoptolemus, banget man, weiß nicht, woran man iſt, was man thun, wie man helfen ſoll? Man tritt auf ſein trauriges α α zu ihm: „Wie denn? du leideſt! du redeſt nicht! Warum ſo ver- ſchloſſen? du wirſt gepeiniget? warum ſeufzeſt du zu den Goͤttern? — Und ein Philoktet antwortet mit verzognem Laͤcheln, mit einem Geſicht, in wel- chem ſich Schmerz und Muth und Freundlichkeit miſchen: Jch? Nein! ich empfinde Erleichterung! ich flehe zu den Goͤttern um gluͤckliche Schiffahrt. Welch ein griechiſcher Garrik gehoͤret dazu, den Schmerz und den Muth, die menſchliche Empfin- dung und die Heldenſeele hier abzuwiegen! Ueber-
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Kritiſche Waͤlder.
der unruhige, der fragende Neoptolem, und Philo-
ktet, der — nicht bruͤllet und tobet, der ſeinen
Schmerz beklemmt, ihn eine große Zeit ſelbſt dem
Neoptolem verbergen will, und nur immer zwiſchen
inne mit einem bangen ιω ϑεοι den Goͤttern klaget.
Und eben dieſe ſtumme Scene des Schmerzes, von
welcher Wirkung muß ſie auf den Zuſchauer ge-
weſen ſeyn? Er ſieht Philoktet leiden, ſtumm, nur
in einer verzognen Geberde, nur mit einem be-
klemmten Ach! leiden; und wer fuͤhlt dieß beklemm-
te Ach! nicht mehr, als das bruͤllende Geſchrei ei-
nes Mars, der in der Schlacht verwundet, wie
zehn tauſend Mann, oder warum nicht lieber, wie
zehn tauſend Ochſen? aufbruͤllet? Hier erſchrickt,
dort fuͤhlet man: mit Philoktet mitleidend beſtuͤrzt,
als Neoptolemus, banget man, weiß nicht, woran
man iſt, was man thun, wie man helfen ſoll?
Man tritt auf ſein trauriges α α zu ihm: „Wie
denn? du leideſt! du redeſt nicht! Warum ſo ver-
ſchloſſen? du wirſt gepeiniget? warum ſeufzeſt du zu
den Goͤttern? — Und ein Philoktet antwortet
mit verzognem Laͤcheln, mit einem Geſicht, in wel-
chem ſich Schmerz und Muth und Freundlichkeit
miſchen: Jch? Nein! ich empfinde Erleichterung!
ich flehe zu den Goͤttern um gluͤckliche Schiffahrt.
Welch ein griechiſcher Garrik gehoͤret dazu, den
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