Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Wäldchen.
der Energie die ganze Kraft empfunden, und wer-
den müsse. Jch lerne von Homer, daß die Wir-
kung der Poesie nie aufs Ohr, durch Töne, nicht
aufs Gedächtniß, wie lange ich einen Zug aus der
Succession behalte, sondern auf meine Phantasie
wirke; von hieraus also, sonst nirgendsher, berech-
net werden müsse. So stelle ich sie gegen die Ma-
lerei, und beklage, daß Hr. L. diesen Mittelpunkt
des Wesens der Poesie "Wirkung auf unsre Seele,
"Energie," nicht zum Augenmerke genommen.

19.

Malerei wirkt nicht aus dem Raume allein, d. i.
Körper: sondern auch im Raume, durch Eigen-
schaften desselben, die sie zu ihrem Zwecke anrichtet.
Nicht blos also, daß kein Gegenstand der Malerei
ohne Sichtbarkeit und Gestalt Statt finde; sondern
Sichtbarkeit und Gestalt sind auch die Eigenschaf-
ten der Körper: durch die sie wirket. Poesie aber,
wenn sie nicht durch den Raum wirket, d. i. coexsi-
stent, durch Farben und Figuren; so folgt noch nicht,
daß sie nicht aus dem Raume wirken, d. i. Körper
von Seiten der Sichtbarkeit und Gestalt schildern
könne. Aus dem Mittel ihrer Wirkung folgt dies
nicht: denn sie wirkt durch den Geist, und nicht durch
den successiven Ton der Worte.

Malerei wirket durch Farben und Figuren fürs
Auge: Poesie, durch don Sinn der Worte auf die

un-
P 4

Erſtes Waͤldchen.
der Energie die ganze Kraft empfunden, und wer-
den muͤſſe. Jch lerne von Homer, daß die Wir-
kung der Poeſie nie aufs Ohr, durch Toͤne, nicht
aufs Gedaͤchtniß, wie lange ich einen Zug aus der
Succeſſion behalte, ſondern auf meine Phantaſie
wirke; von hieraus alſo, ſonſt nirgendsher, berech-
net werden muͤſſe. So ſtelle ich ſie gegen die Ma-
lerei, und beklage, daß Hr. L. dieſen Mittelpunkt
des Weſens der Poeſie „Wirkung auf unſre Seele,
„Energie,„ nicht zum Augenmerke genommen.

19.

Malerei wirkt nicht aus dem Raume allein, d. i.
Koͤrper: ſondern auch im Raume, durch Eigen-
ſchaften deſſelben, die ſie zu ihrem Zwecke anrichtet.
Nicht blos alſo, daß kein Gegenſtand der Malerei
ohne Sichtbarkeit und Geſtalt Statt finde; ſondern
Sichtbarkeit und Geſtalt ſind auch die Eigenſchaf-
ten der Koͤrper: durch die ſie wirket. Poeſie aber,
wenn ſie nicht durch den Raum wirket, d. i. coexſi-
ſtent, durch Farben und Figuren; ſo folgt noch nicht,
daß ſie nicht aus dem Raume wirken, d. i. Koͤrper
von Seiten der Sichtbarkeit und Geſtalt ſchildern
koͤnne. Aus dem Mittel ihrer Wirkung folgt dies
nicht: denn ſie wirkt durch den Geiſt, und nicht durch
den ſucceſſiven Ton der Worte.

Malerei wirket durch Farben und Figuren fuͤrs
Auge: Poeſie, durch don Sinn der Worte auf die

un-
P 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0237" n="231"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
der Energie die ganze Kraft empfunden, und wer-<lb/>
den mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. Jch lerne von Homer, daß die Wir-<lb/>
kung der Poe&#x017F;ie nie aufs Ohr, durch To&#x0364;ne, nicht<lb/>
aufs Geda&#x0364;chtniß, wie lange ich einen Zug aus der<lb/>
Succe&#x017F;&#x017F;ion behalte, &#x017F;ondern auf meine Phanta&#x017F;ie<lb/>
wirke; von hieraus al&#x017F;o, &#x017F;on&#x017F;t nirgendsher, berech-<lb/>
net werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. So &#x017F;telle ich &#x017F;ie gegen die Ma-<lb/>
lerei, und beklage, daß Hr. L. die&#x017F;en Mittelpunkt<lb/>
des We&#x017F;ens der Poe&#x017F;ie &#x201E;Wirkung auf un&#x017F;re Seele,<lb/>
&#x201E;Energie,&#x201E; nicht zum Augenmerke genommen.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>19.</head><lb/>
          <p>Malerei wirkt nicht aus dem Raume allein, d. i.<lb/>
Ko&#x0364;rper: &#x017F;ondern auch im Raume, durch Eigen-<lb/>
&#x017F;chaften de&#x017F;&#x017F;elben, die &#x017F;ie zu ihrem Zwecke anrichtet.<lb/>
Nicht blos al&#x017F;o, daß kein Gegen&#x017F;tand der Malerei<lb/>
ohne Sichtbarkeit und Ge&#x017F;talt Statt finde; &#x017F;ondern<lb/>
Sichtbarkeit und Ge&#x017F;talt &#x017F;ind auch die Eigen&#x017F;chaf-<lb/>
ten der Ko&#x0364;rper: durch die &#x017F;ie wirket. Poe&#x017F;ie aber,<lb/>
wenn &#x017F;ie nicht durch den Raum wirket, d. i. coex&#x017F;i-<lb/>
&#x017F;tent, durch Farben und Figuren; &#x017F;o folgt noch nicht,<lb/>
daß &#x017F;ie nicht <hi rendition="#fr">aus dem Raume</hi> wirken, d. i. Ko&#x0364;rper<lb/>
von Seiten der Sichtbarkeit und Ge&#x017F;talt &#x017F;childern<lb/>
ko&#x0364;nne. Aus dem Mittel ihrer Wirkung folgt dies<lb/>
nicht: denn &#x017F;ie wirkt durch den Gei&#x017F;t, und nicht durch<lb/>
den &#x017F;ucce&#x017F;&#x017F;iven Ton der Worte.</p><lb/>
          <p>Malerei wirket durch Farben und Figuren fu&#x0364;rs<lb/>
Auge: Poe&#x017F;ie, durch don Sinn der Worte auf die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 4</fw><fw place="bottom" type="catch">un-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[231/0237] Erſtes Waͤldchen. der Energie die ganze Kraft empfunden, und wer- den muͤſſe. Jch lerne von Homer, daß die Wir- kung der Poeſie nie aufs Ohr, durch Toͤne, nicht aufs Gedaͤchtniß, wie lange ich einen Zug aus der Succeſſion behalte, ſondern auf meine Phantaſie wirke; von hieraus alſo, ſonſt nirgendsher, berech- net werden muͤſſe. So ſtelle ich ſie gegen die Ma- lerei, und beklage, daß Hr. L. dieſen Mittelpunkt des Weſens der Poeſie „Wirkung auf unſre Seele, „Energie,„ nicht zum Augenmerke genommen. 19. Malerei wirkt nicht aus dem Raume allein, d. i. Koͤrper: ſondern auch im Raume, durch Eigen- ſchaften deſſelben, die ſie zu ihrem Zwecke anrichtet. Nicht blos alſo, daß kein Gegenſtand der Malerei ohne Sichtbarkeit und Geſtalt Statt finde; ſondern Sichtbarkeit und Geſtalt ſind auch die Eigenſchaf- ten der Koͤrper: durch die ſie wirket. Poeſie aber, wenn ſie nicht durch den Raum wirket, d. i. coexſi- ſtent, durch Farben und Figuren; ſo folgt noch nicht, daß ſie nicht aus dem Raume wirken, d. i. Koͤrper von Seiten der Sichtbarkeit und Geſtalt ſchildern koͤnne. Aus dem Mittel ihrer Wirkung folgt dies nicht: denn ſie wirkt durch den Geiſt, und nicht durch den ſucceſſiven Ton der Worte. Malerei wirket durch Farben und Figuren fuͤrs Auge: Poeſie, durch don Sinn der Worte auf die un- P 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/237
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/237>, abgerufen am 13.05.2024.