[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. Arbeit giebt, nun erst uns jeder. Arbeit des Künst-lers zuschauen läßt -- wer kann sagen, Homer habe das Successive seiner Beschreibung der Natur des Coexsistenten gleichsam näher bringen, und die Theile des Bogens mit dem Flusse der Rede Schritt halten lassen! Statt, daß sie durch diese homerische Ma- nier näher zusammen kommen sollten; sehe ich sie sich weiter hinaus zerstreuen; unter vielen andren fremdenn Zügen: (Jagd, Steinbock, Ort des Erha- schens, Ort der Verwundung, Lage des gefällten Steinbocks, Werkstäte des Künstlers,) liegen sie versteckt: und hätte Homer mit seiner Geschichte des Bogens darauf gezweckt, um mir nachher mit Einmal alle Theile des Bogens anschaulich zu geben: so hätte er eben den schlechtesten Weg genommen. Meine Phantasie wenigstens hat sich der Geschichte überlassen, den Pandarus einen Bogen zu zimmern, aber ihn sich nachher in allen seinen Theilen auf Ein- mal zu denken, die fremden Züge in der Geschichte erst wegzulassen -- welche Mühe! welche Abson- derung! "Homer malet den Schild Achilles in mehr "als hundert prächtigen Versen, nach seiner Mate- "rie, nach seiner Form, nach allen seinen Figuren, "welche die ungeheure Fläche desselben füllten, so "[u]mständlich, so genau, daß es neuen Künstlern "nicht schwer gefallen, eine in allen Stücken über- "einstimmende Zeichnung darnach zu machen. Er "malet dies Schild nicht als ein fertiges vollende- "tes, O 4
Erſtes Waͤldchen. Arbeit giebt, nun erſt uns jeder. Arbeit des Kuͤnſt-lers zuſchauen laͤßt — wer kann ſagen, Homer habe das Succeſſive ſeiner Beſchreibung der Natur des Coexſiſtenten gleichſam naͤher bringen, und die Theile des Bogens mit dem Fluſſe der Rede Schritt halten laſſen! Statt, daß ſie durch dieſe homeriſche Ma- nier naͤher zuſammen kommen ſollten; ſehe ich ſie ſich weiter hinaus zerſtreuen; unter vielen andren fremdenn Zuͤgen: (Jagd, Steinbock, Ort des Erha- ſchens, Ort der Verwundung, Lage des gefaͤllten Steinbocks, Werkſtaͤte des Kuͤnſtlers,) liegen ſie verſteckt: und haͤtte Homer mit ſeiner Geſchichte des Bogens darauf gezweckt, um mir nachher mit Einmal alle Theile des Bogens anſchaulich zu geben: ſo haͤtte er eben den ſchlechteſten Weg genommen. Meine Phantaſie wenigſtens hat ſich der Geſchichte uͤberlaſſen, den Pandarus einen Bogen zu zimmern, aber ihn ſich nachher in allen ſeinen Theilen auf Ein- mal zu denken, die fremden Zuͤge in der Geſchichte erſt wegzulaſſen — welche Muͤhe! welche Abſon- derung! „Homer malet den Schild Achilles in mehr „als hundert praͤchtigen Verſen, nach ſeiner Mate- „rie, nach ſeiner Form, nach allen ſeinen Figuren, „welche die ungeheure Flaͤche deſſelben fuͤllten, ſo „[u]mſtaͤndlich, ſo genau, daß es neuen Kuͤnſtlern „nicht ſchwer gefallen, eine in allen Stuͤcken uͤber- „einſtimmende Zeichnung darnach zu machen. Er „malet dies Schild nicht als ein fertiges vollende- „tes, O 4
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0221" n="215"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Erſtes Waͤldchen.</hi></fw><lb/> Arbeit giebt, nun erſt uns jeder. Arbeit des Kuͤnſt-<lb/> lers zuſchauen laͤßt — wer kann ſagen, Homer habe<lb/> das Succeſſive ſeiner Beſchreibung der Natur des<lb/> Coexſiſtenten gleichſam naͤher bringen, und die Theile<lb/> des Bogens mit dem Fluſſe der Rede Schritt halten<lb/> laſſen! Statt, daß ſie durch dieſe homeriſche Ma-<lb/> nier naͤher zuſammen kommen ſollten; ſehe ich ſie<lb/> ſich weiter hinaus zerſtreuen; unter vielen andren<lb/> fremdenn Zuͤgen: (Jagd, Steinbock, Ort des Erha-<lb/> ſchens, Ort der Verwundung, Lage des gefaͤllten<lb/> Steinbocks, Werkſtaͤte des Kuͤnſtlers,) liegen ſie<lb/> verſteckt: und haͤtte Homer mit ſeiner Geſchichte<lb/> des Bogens darauf gezweckt, um mir nachher mit<lb/> Einmal alle Theile des Bogens anſchaulich zu geben:<lb/> ſo haͤtte er eben den ſchlechteſten Weg genommen.<lb/> Meine Phantaſie wenigſtens hat ſich der Geſchichte<lb/> uͤberlaſſen, den Pandarus einen Bogen zu zimmern,<lb/> aber ihn ſich nachher in allen ſeinen Theilen auf Ein-<lb/> mal zu denken, die fremden Zuͤge in der Geſchichte<lb/> erſt wegzulaſſen — welche Muͤhe! welche Abſon-<lb/> derung! „Homer malet den Schild Achilles in mehr<lb/> „als hundert praͤchtigen Verſen, nach ſeiner Mate-<lb/> „rie, nach ſeiner Form, nach allen ſeinen Figuren,<lb/> „welche die ungeheure Flaͤche deſſelben fuͤllten, ſo<lb/> „<supplied>u</supplied>mſtaͤndlich, ſo genau, daß es neuen Kuͤnſtlern<lb/> „nicht ſchwer gefallen, eine in allen Stuͤcken uͤber-<lb/> „einſtimmende Zeichnung darnach zu machen. Er<lb/> „malet dies Schild nicht als ein fertiges vollende-<lb/> <fw place="bottom" type="sig">O 4</fw><fw place="bottom" type="catch">„tes,</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [215/0221]
Erſtes Waͤldchen.
Arbeit giebt, nun erſt uns jeder. Arbeit des Kuͤnſt-
lers zuſchauen laͤßt — wer kann ſagen, Homer habe
das Succeſſive ſeiner Beſchreibung der Natur des
Coexſiſtenten gleichſam naͤher bringen, und die Theile
des Bogens mit dem Fluſſe der Rede Schritt halten
laſſen! Statt, daß ſie durch dieſe homeriſche Ma-
nier naͤher zuſammen kommen ſollten; ſehe ich ſie
ſich weiter hinaus zerſtreuen; unter vielen andren
fremdenn Zuͤgen: (Jagd, Steinbock, Ort des Erha-
ſchens, Ort der Verwundung, Lage des gefaͤllten
Steinbocks, Werkſtaͤte des Kuͤnſtlers,) liegen ſie
verſteckt: und haͤtte Homer mit ſeiner Geſchichte
des Bogens darauf gezweckt, um mir nachher mit
Einmal alle Theile des Bogens anſchaulich zu geben:
ſo haͤtte er eben den ſchlechteſten Weg genommen.
Meine Phantaſie wenigſtens hat ſich der Geſchichte
uͤberlaſſen, den Pandarus einen Bogen zu zimmern,
aber ihn ſich nachher in allen ſeinen Theilen auf Ein-
mal zu denken, die fremden Zuͤge in der Geſchichte
erſt wegzulaſſen — welche Muͤhe! welche Abſon-
derung! „Homer malet den Schild Achilles in mehr
„als hundert praͤchtigen Verſen, nach ſeiner Mate-
„rie, nach ſeiner Form, nach allen ſeinen Figuren,
„welche die ungeheure Flaͤche deſſelben fuͤllten, ſo
„umſtaͤndlich, ſo genau, daß es neuen Kuͤnſtlern
„nicht ſchwer gefallen, eine in allen Stuͤcken uͤber-
„einſtimmende Zeichnung darnach zu machen. Er
„malet dies Schild nicht als ein fertiges vollende-
„tes,
O 4
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |