Leßings und Winkelmanns sind auch zu verschieden, als daß ichs von mir erlangen könnte, sie gegen ein- ander abzumessen.
Wo Leßing in seinem Laokoon am vortrefflich- sten schreibt, spricht -- der Kritikus: der Kunst- richter des poetischen Geschmacks: der Dichter. Wie Sophokles Philoktet leide, und die Helden Ho- mers weinen, und Virgils Laokoon den Mund öf- nen, und körperliche Schmerzen auf dem Theater winseln dörfen -- wie Virgil, Petron und Sado- let den Laokoon bilden, und der Dichter den Künstler, und der Künstler nachahmen könne -- wer spricht hier überall, als der Kunstrichter des Poeten? Die- ser ists, der dem Philoktet des Chateaubrun einen Streich giebt, der Spence'n und Caylus ihre Fehler zeiget, der Homers poetische Wesen claßifi- cirt, und poetische von der malerischen Schönheit unterscheidet -- überall der Kunstrichter des Dich- ters: das ist sein Geschäft. Und sein Zweck der- selbe. Dem falschen poetischen Geschmack entgegen zu reden, die Grenzen zwoer Künste zu bestimmen, damit die eine der andern nicht vorgreifen, vorarbei- ten, zu nahe treten wolle: das ist sein Zweck. Was er auf diesem Wege von dem Jnnern der Kunst fin- det, freilich nimmt ers auf; aber mir noch immer Leßing, der poetische Kunstrichter, der sich selbst Dichter fühlt.
Win-
Erſtes Waͤldchen.
Leßings und Winkelmanns ſind auch zu verſchieden, als daß ichs von mir erlangen koͤnnte, ſie gegen ein- ander abzumeſſen.
Wo Leßing in ſeinem Laokoon am vortrefflich- ſten ſchreibt, ſpricht — der Kritikus: der Kunſt- richter des poetiſchen Geſchmacks: der Dichter. Wie Sophokles Philoktet leide, und die Helden Ho- mers weinen, und Virgils Laokoon den Mund oͤf- nen, und koͤrperliche Schmerzen auf dem Theater winſeln doͤrfen — wie Virgil, Petron und Sado- let den Laokoon bilden, und der Dichter den Kuͤnſtler, und der Kuͤnſtler nachahmen koͤnne — wer ſpricht hier uͤberall, als der Kunſtrichter des Poeten? Die- ſer iſts, der dem Philoktet des Chateaubrun einen Streich giebt, der Spence’n und Caylus ihre Fehler zeiget, der Homers poetiſche Weſen claßifi- cirt, und poetiſche von der maleriſchen Schoͤnheit unterſcheidet — uͤberall der Kunſtrichter des Dich- ters: das iſt ſein Geſchaͤft. Und ſein Zweck der- ſelbe. Dem falſchen poetiſchen Geſchmack entgegen zu reden, die Grenzen zwoer Kuͤnſte zu beſtimmen, damit die eine der andern nicht vorgreifen, vorarbei- ten, zu nahe treten wolle: das iſt ſein Zweck. Was er auf dieſem Wege von dem Jnnern der Kunſt fin- det, freilich nimmt ers auf; aber mir noch immer Leßing, der poetiſche Kunſtrichter, der ſich ſelbſt Dichter fuͤhlt.
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Erſtes Waͤldchen.
Leßings und Winkelmanns ſind auch zu verſchieden,
als daß ichs von mir erlangen koͤnnte, ſie gegen ein-
ander abzumeſſen.
Wo Leßing in ſeinem Laokoon am vortrefflich-
ſten ſchreibt, ſpricht — der Kritikus: der Kunſt-
richter des poetiſchen Geſchmacks: der Dichter.
Wie Sophokles Philoktet leide, und die Helden Ho-
mers weinen, und Virgils Laokoon den Mund oͤf-
nen, und koͤrperliche Schmerzen auf dem Theater
winſeln doͤrfen — wie Virgil, Petron und Sado-
let den Laokoon bilden, und der Dichter den Kuͤnſtler,
und der Kuͤnſtler nachahmen koͤnne — wer ſpricht
hier uͤberall, als der Kunſtrichter des Poeten? Die-
ſer iſts, der dem Philoktet des Chateaubrun einen
Streich giebt, der Spence’n und Caylus ihre
Fehler zeiget, der Homers poetiſche Weſen claßifi-
cirt, und poetiſche von der maleriſchen Schoͤnheit
unterſcheidet — uͤberall der Kunſtrichter des Dich-
ters: das iſt ſein Geſchaͤft. Und ſein Zweck der-
ſelbe. Dem falſchen poetiſchen Geſchmack entgegen
zu reden, die Grenzen zwoer Kuͤnſte zu beſtimmen,
damit die eine der andern nicht vorgreifen, vorarbei-
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Leßing, der poetiſche Kunſtrichter, der ſich ſelbſt
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/17>, abgerufen am 16.02.2025.
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