Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
dienen müssen, die Schärfe ihrer Augen dem Pu-
blikum zu zeigen. Wenn der eine ihn zum größ-
ten Antiquar unsrer Zeiten, zum ersten Lehrer der
Kunst machte: so war er dem andern, ach leider!
ein witziger Kopf, und einem dritten, einem from-
men kritischen Christen a), ein Schulphilosoph, ein
Aesthetiker aus Baumgartens Schule, der nach der
Sprache unsrer neuen Schöndenker, mit ein paar
Unzen Baumgartenscher Philosophie den Weltwei-
sen aller Zeiten trotzen wolle. O! mit verstopftem
Ohr durch diese Chöre quäckender Frösche hindurch,
wie Ulysses durch den Gesang der Syrenen!

Für mich hat Laokoon an sich selbst Schönheit
gnug, als daß er blos durch den Kontrast mit einem
andern gewinnen dörfte. Vor und hinter demsel-
ben, was L. gegen W. habe, sind entweder nichts
als Parerga, für die beide sie ansehen werden,
oder wenigstens trifft nichts auf Winkelmanns
Hauptzweck, die Kunst; und Laokoon also, als Abhand-
lung über die Gränzen der Poesie und Malerei, hat
Werth und Vortrefflichkeit; aber ihn als Streit-
schrift, als Prüfung der ganzen Winkelmannischen
Werke betrachten zu wollen, ist meines Erachtens
der falscheste Gesichtspunkt, und der Genius eines

Les-
a) Auch hier führe ich nur einen Zeugen an: Huch über die
Satyre Archilochus;
und kann zu jedem angeführ-
ten Zuge einen anführen, wenn es der Mühe werth
wäre.

Kritiſche Waͤlder.
dienen muͤſſen, die Schaͤrfe ihrer Augen dem Pu-
blikum zu zeigen. Wenn der eine ihn zum groͤß-
ten Antiquar unſrer Zeiten, zum erſten Lehrer der
Kunſt machte: ſo war er dem andern, ach leider!
ein witziger Kopf, und einem dritten, einem from-
men kritiſchen Chriſten a), ein Schulphiloſoph, ein
Aeſthetiker aus Baumgartens Schule, der nach der
Sprache unſrer neuen Schoͤndenker, mit ein paar
Unzen Baumgartenſcher Philoſophie den Weltwei-
ſen aller Zeiten trotzen wolle. O! mit verſtopftem
Ohr durch dieſe Choͤre quaͤckender Froͤſche hindurch,
wie Ulyſſes durch den Geſang der Syrenen!

Fuͤr mich hat Laokoon an ſich ſelbſt Schoͤnheit
gnug, als daß er blos durch den Kontraſt mit einem
andern gewinnen doͤrfte. Vor und hinter demſel-
ben, was L. gegen W. habe, ſind entweder nichts
als Parerga, fuͤr die beide ſie anſehen werden,
oder wenigſtens trifft nichts auf Winkelmanns
Hauptzweck, die Kunſt; und Laokoon alſo, als Abhand-
lung uͤber die Graͤnzen der Poeſie und Malerei, hat
Werth und Vortrefflichkeit; aber ihn als Streit-
ſchrift, als Pruͤfung der ganzen Winkelmanniſchen
Werke betrachten zu wollen, iſt meines Erachtens
der falſcheſte Geſichtspunkt, und der Genius eines

Leſ-
a) Auch hier fuͤhre ich nur einen Zeugen an: Huch uͤber die
Satyre Archilochus;
und kann zu jedem angefuͤhr-
ten Zuge einen anfuͤhren, wenn es der Muͤhe werth
waͤre.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0016" n="10"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
dienen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, die Scha&#x0364;rfe ihrer Augen dem Pu-<lb/>
blikum zu zeigen. Wenn der eine ihn zum gro&#x0364;ß-<lb/>
ten Antiquar un&#x017F;rer Zeiten, zum er&#x017F;ten Lehrer der<lb/>
Kun&#x017F;t machte: &#x017F;o war er dem andern, ach leider!<lb/>
ein witziger Kopf, und einem dritten, einem from-<lb/>
men kriti&#x017F;chen Chri&#x017F;ten <note place="foot" n="a)">Auch hier fu&#x0364;hre ich nur einen Zeugen an: <hi rendition="#fr">Huch u&#x0364;ber die<lb/>
Satyre Archilochus;</hi> und kann zu jedem angefu&#x0364;hr-<lb/>
ten Zuge einen anfu&#x0364;hren, wenn es der Mu&#x0364;he werth<lb/>
wa&#x0364;re.</note>, ein Schulphilo&#x017F;oph, ein<lb/>
Ae&#x017F;thetiker aus Baumgartens Schule, der nach der<lb/>
Sprache un&#x017F;rer neuen Scho&#x0364;ndenker, mit ein paar<lb/>
Unzen Baumgarten&#x017F;cher Philo&#x017F;ophie den Weltwei-<lb/>
&#x017F;en aller Zeiten trotzen wolle. O! mit ver&#x017F;topftem<lb/>
Ohr durch die&#x017F;e Cho&#x0364;re qua&#x0364;ckender Fro&#x0364;&#x017F;che hindurch,<lb/>
wie Uly&#x017F;&#x017F;es durch den Ge&#x017F;ang der Syrenen!</p><lb/>
          <p>Fu&#x0364;r mich hat Laokoon an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t Scho&#x0364;nheit<lb/>
gnug, als daß er blos durch den Kontra&#x017F;t mit einem<lb/>
andern gewinnen do&#x0364;rfte. Vor und hinter dem&#x017F;el-<lb/>
ben, was L. gegen W. habe, &#x017F;ind entweder nichts<lb/>
als Parerga, fu&#x0364;r die beide &#x017F;ie an&#x017F;ehen werden,<lb/>
oder wenig&#x017F;tens trifft nichts auf Winkelmanns<lb/>
Hauptzweck, die Kun&#x017F;t; und Laokoon al&#x017F;o, als Abhand-<lb/>
lung u&#x0364;ber die Gra&#x0364;nzen der Poe&#x017F;ie und Malerei, hat<lb/>
Werth und Vortrefflichkeit; aber ihn als Streit-<lb/>
&#x017F;chrift, als Pru&#x0364;fung der ganzen Winkelmanni&#x017F;chen<lb/>
Werke betrachten zu wollen, i&#x017F;t meines Erachtens<lb/>
der fal&#x017F;che&#x017F;te Ge&#x017F;ichtspunkt, und der Genius eines<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Le&#x017F;-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0016] Kritiſche Waͤlder. dienen muͤſſen, die Schaͤrfe ihrer Augen dem Pu- blikum zu zeigen. Wenn der eine ihn zum groͤß- ten Antiquar unſrer Zeiten, zum erſten Lehrer der Kunſt machte: ſo war er dem andern, ach leider! ein witziger Kopf, und einem dritten, einem from- men kritiſchen Chriſten a), ein Schulphiloſoph, ein Aeſthetiker aus Baumgartens Schule, der nach der Sprache unſrer neuen Schoͤndenker, mit ein paar Unzen Baumgartenſcher Philoſophie den Weltwei- ſen aller Zeiten trotzen wolle. O! mit verſtopftem Ohr durch dieſe Choͤre quaͤckender Froͤſche hindurch, wie Ulyſſes durch den Geſang der Syrenen! Fuͤr mich hat Laokoon an ſich ſelbſt Schoͤnheit gnug, als daß er blos durch den Kontraſt mit einem andern gewinnen doͤrfte. Vor und hinter demſel- ben, was L. gegen W. habe, ſind entweder nichts als Parerga, fuͤr die beide ſie anſehen werden, oder wenigſtens trifft nichts auf Winkelmanns Hauptzweck, die Kunſt; und Laokoon alſo, als Abhand- lung uͤber die Graͤnzen der Poeſie und Malerei, hat Werth und Vortrefflichkeit; aber ihn als Streit- ſchrift, als Pruͤfung der ganzen Winkelmanniſchen Werke betrachten zu wollen, iſt meines Erachtens der falſcheſte Geſichtspunkt, und der Genius eines Leſ- a) Auch hier fuͤhre ich nur einen Zeugen an: Huch uͤber die Satyre Archilochus; und kann zu jedem angefuͤhr- ten Zuge einen anfuͤhren, wenn es der Muͤhe werth waͤre.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/16
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/16>, abgerufen am 28.04.2024.