Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
Fortuna schon damals ihren großen Zeh zu regen
schien, um an die Säule zu treffen. -- Wie aber
fürchten sich davor Dacier und Scythen, Barbarn
und Tyrannen -- keine Römer, keine Patrioten?
Horaz sagt nicht: daß jene sich davor, vor diesem
Umsturze fürchten; sondern, daß sie die Göttinn des
Glücks fürchten und scheuen: sie, die über Rom
wache, und die Säule desselben vor sich habe; die
aber auch mit einem Fußstoße dasselbe stürzen könne:
diese Allmächtige fürchten und scheuen Scythen und
Barbarn, (denn was könnten ihr diese für ein ande-
res Opfer bringen, als Furcht?) und warten auf
den Augenblick ihres Entschlusses, der damals sich
schien zu nähern.

Bisher ist die Ode ein römisches National- und
ein Antiatisches Familienstück gewesen; sie fängt an,
symbolischer zu werden:

-- te semper anteit serva (salva) Necessitas
Clavos trabales et cuneos manu
Gestans ahena; nec severus
Vncus abest, liquidumque plumbum.

Seit dem es Kunstrichter von Geschmacke giebt, ist
mehr als einer mit diesem Bilde Horaz nicht zu-
frieden gewesen. Sanadon zuerst unterstand sich,
zu sagen, daß dies Gemälde in seinem Detail genom-
men, schöner auf der Leinwand, als in einer heroi-
schen Ode, wäre. Jch weiß nicht, ob Sanadons
Gefühl hierinn nicht fein und richtig bleibe, ob ich

gleich

Kritiſche Waͤlder.
Fortuna ſchon damals ihren großen Zeh zu regen
ſchien, um an die Saͤule zu treffen. — Wie aber
fuͤrchten ſich davor Dacier und Scythen, Barbarn
und Tyrannen — keine Roͤmer, keine Patrioten?
Horaz ſagt nicht: daß jene ſich davor, vor dieſem
Umſturze fuͤrchten; ſondern, daß ſie die Goͤttinn des
Gluͤcks fuͤrchten und ſcheuen: ſie, die uͤber Rom
wache, und die Saͤule deſſelben vor ſich habe; die
aber auch mit einem Fußſtoße daſſelbe ſtuͤrzen koͤnne:
dieſe Allmaͤchtige fuͤrchten und ſcheuen Scythen und
Barbarn, (denn was koͤnnten ihr dieſe fuͤr ein ande-
res Opfer bringen, als Furcht?) und warten auf
den Augenblick ihres Entſchluſſes, der damals ſich
ſchien zu naͤhern.

Bisher iſt die Ode ein roͤmiſches National- und
ein Antiatiſches Familienſtuͤck geweſen; ſie faͤngt an,
ſymboliſcher zu werden:

— te ſemper anteit ſerva (ſalva) Neceſſitas
Clavos trabales et cuneos manu
Geſtans ahena; nec ſeverus
Vncus abeſt, liquidumque plumbum.

Seit dem es Kunſtrichter von Geſchmacke giebt, iſt
mehr als einer mit dieſem Bilde Horaz nicht zu-
frieden geweſen. Sanadon zuerſt unterſtand ſich,
zu ſagen, daß dies Gemaͤlde in ſeinem Detail genom-
men, ſchoͤner auf der Leinwand, als in einer heroi-
ſchen Ode, waͤre. Jch weiß nicht, ob Sanadons
Gefuͤhl hierinn nicht fein und richtig bleibe, ob ich

gleich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0148" n="142"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
Fortuna &#x017F;chon damals ihren großen Zeh zu regen<lb/>
&#x017F;chien, um an die Sa&#x0364;ule zu treffen. &#x2014; Wie aber<lb/>
fu&#x0364;rchten &#x017F;ich davor Dacier und Scythen, Barbarn<lb/>
und Tyrannen &#x2014; keine Ro&#x0364;mer, keine Patrioten?<lb/>
Horaz &#x017F;agt nicht: daß jene &#x017F;ich <hi rendition="#fr">davor,</hi> vor die&#x017F;em<lb/>
Um&#x017F;turze fu&#x0364;rchten; &#x017F;ondern, daß &#x017F;ie die Go&#x0364;ttinn des<lb/>
Glu&#x0364;cks fu&#x0364;rchten und &#x017F;cheuen: &#x017F;ie, die u&#x0364;ber Rom<lb/>
wache, und die Sa&#x0364;ule de&#x017F;&#x017F;elben vor &#x017F;ich habe; die<lb/>
aber auch mit einem Fuß&#x017F;toße da&#x017F;&#x017F;elbe &#x017F;tu&#x0364;rzen ko&#x0364;nne:<lb/>
die&#x017F;e Allma&#x0364;chtige fu&#x0364;rchten und &#x017F;cheuen Scythen und<lb/>
Barbarn, (denn was ko&#x0364;nnten ihr die&#x017F;e fu&#x0364;r ein ande-<lb/>
res Opfer bringen, als Furcht?) und warten auf<lb/>
den Augenblick ihres Ent&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;es, der damals &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;chien zu na&#x0364;hern.</p><lb/>
          <p>Bisher i&#x017F;t die Ode ein ro&#x0364;mi&#x017F;ches National- und<lb/>
ein Antiati&#x017F;ches Familien&#x017F;tu&#x0364;ck gewe&#x017F;en; &#x017F;ie fa&#x0364;ngt an,<lb/>
&#x017F;ymboli&#x017F;cher zu werden:</p><lb/>
          <cit>
            <quote>
              <lg type="poem">
                <l> <hi rendition="#aq">&#x2014; te &#x017F;emper anteit &#x017F;erva (&#x017F;alva) Nece&#x017F;&#x017F;itas</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#et">Clavos trabales et cuneos manu</hi> </hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#et">Ge&#x017F;tans ahena; nec &#x017F;everus</hi> </hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#et">Vncus abe&#x017F;t, liquidumque plumbum.</hi> </hi> </l>
              </lg>
            </quote>
            <bibl/>
          </cit><lb/>
          <p>Seit dem es Kun&#x017F;trichter von Ge&#x017F;chmacke giebt, i&#x017F;t<lb/>
mehr als einer mit die&#x017F;em Bilde Horaz nicht zu-<lb/>
frieden gewe&#x017F;en. <hi rendition="#fr">Sanadon</hi> zuer&#x017F;t unter&#x017F;tand &#x017F;ich,<lb/>
zu &#x017F;agen, daß dies Gema&#x0364;lde in &#x017F;einem Detail genom-<lb/>
men, &#x017F;cho&#x0364;ner auf der Leinwand, als in einer heroi-<lb/>
&#x017F;chen Ode, wa&#x0364;re. Jch weiß nicht, ob Sanadons<lb/>
Gefu&#x0364;hl hierinn nicht fein und richtig bleibe, ob ich<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gleich</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[142/0148] Kritiſche Waͤlder. Fortuna ſchon damals ihren großen Zeh zu regen ſchien, um an die Saͤule zu treffen. — Wie aber fuͤrchten ſich davor Dacier und Scythen, Barbarn und Tyrannen — keine Roͤmer, keine Patrioten? Horaz ſagt nicht: daß jene ſich davor, vor dieſem Umſturze fuͤrchten; ſondern, daß ſie die Goͤttinn des Gluͤcks fuͤrchten und ſcheuen: ſie, die uͤber Rom wache, und die Saͤule deſſelben vor ſich habe; die aber auch mit einem Fußſtoße daſſelbe ſtuͤrzen koͤnne: dieſe Allmaͤchtige fuͤrchten und ſcheuen Scythen und Barbarn, (denn was koͤnnten ihr dieſe fuͤr ein ande- res Opfer bringen, als Furcht?) und warten auf den Augenblick ihres Entſchluſſes, der damals ſich ſchien zu naͤhern. Bisher iſt die Ode ein roͤmiſches National- und ein Antiatiſches Familienſtuͤck geweſen; ſie faͤngt an, ſymboliſcher zu werden: — te ſemper anteit ſerva (ſalva) Neceſſitas Clavos trabales et cuneos manu Geſtans ahena; nec ſeverus Vncus abeſt, liquidumque plumbum. Seit dem es Kunſtrichter von Geſchmacke giebt, iſt mehr als einer mit dieſem Bilde Horaz nicht zu- frieden geweſen. Sanadon zuerſt unterſtand ſich, zu ſagen, daß dies Gemaͤlde in ſeinem Detail genom- men, ſchoͤner auf der Leinwand, als in einer heroi- ſchen Ode, waͤre. Jch weiß nicht, ob Sanadons Gefuͤhl hierinn nicht fein und richtig bleibe, ob ich gleich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/148
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/148>, abgerufen am 10.05.2024.