[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. Götter, die ihm sonst einzeln nothwendig waren.Jmmerhin lasse er auch seine Handlung dem ab- strakten Charakter sichtlich widersprechen: immer- hin male er uns auch eine auf ihren Kupido zürnen- de Venus; denn wenn sie auch in diesem Augen- blick nicht die Liebe selbst bliebe, so bleibt sie doch, was sie ursprünglich ist, die Göttinn der Liebe, die Mutter des Kupido. Kann er Venus und den getödteten Adonis in malerische Handlung bringen: so ruffen wir der Venus mit dem Dichter zu: "was "schläfst du, Cytherea, auf purpurnen Decken! "Stehe auf, Unglückselige, zeuch Trauerkleider "an, und schlage an deine Brust, und klage der "ganzen Welt: er ist nicht mehr, der schöne Ado- "nis! und immerhin wollen wir auch Adonis se- "hen, wie ihn der Dichter sieht: Er liegt, der "schöne Adonis liegt ausgestreckt auf dem Gebirge. "Ein mörderischer Zahn hat seine zarte Hüfte ver- "letzt. Noch einen letzten Seufzer athmet er: "schwarzes Blut rinnt über den Leib, der blenden- "der ist, als Schnee. Das Licht seiner Augen "verlischt: die Lippen erblassen: Adonis stirbt." Stirbt Adonis etwa, als die Jdee ehelicher Liebe und Glückseligkeit und Schönheit? trauret Venus, um die Jdee der Liebe in Maske zu zeigen? Wird die letztere jedem gesunden mythologischen Auge deß- wegen hier kenntlich werden, weil sie das Abstrak- tum der Liebe macht? Nein, das Süjet des Gemäl- des
Kritiſche Waͤlder. Goͤtter, die ihm ſonſt einzeln nothwendig waren.Jmmerhin laſſe er auch ſeine Handlung dem ab- ſtrakten Charakter ſichtlich widerſprechen: immer- hin male er uns auch eine auf ihren Kupido zuͤrnen- de Venus; denn wenn ſie auch in dieſem Augen- blick nicht die Liebe ſelbſt bliebe, ſo bleibt ſie doch, was ſie urſpruͤnglich iſt, die Goͤttinn der Liebe, die Mutter des Kupido. Kann er Venus und den getoͤdteten Adonis in maleriſche Handlung bringen: ſo ruffen wir der Venus mit dem Dichter zu: „was „ſchlaͤfſt du, Cytherea, auf purpurnen Decken! „Stehe auf, Ungluͤckſelige, zeuch Trauerkleider „an, und ſchlage an deine Bruſt, und klage der „ganzen Welt: er iſt nicht mehr, der ſchoͤne Ado- „nis! und immerhin wollen wir auch Adonis ſe- „hen, wie ihn der Dichter ſieht: Er liegt, der „ſchoͤne Adonis liegt ausgeſtreckt auf dem Gebirge. „Ein moͤrderiſcher Zahn hat ſeine zarte Huͤfte ver- „letzt. Noch einen letzten Seufzer athmet er: „ſchwarzes Blut rinnt uͤber den Leib, der blenden- „der iſt, als Schnee. Das Licht ſeiner Augen „verliſcht: die Lippen erblaſſen: Adonis ſtirbt.„ Stirbt Adonis etwa, als die Jdee ehelicher Liebe und Gluͤckſeligkeit und Schoͤnheit? trauret Venus, um die Jdee der Liebe in Maſke zu zeigen? Wird die letztere jedem geſunden mythologiſchen Auge deß- wegen hier kenntlich werden, weil ſie das Abſtrak- tum der Liebe macht? Nein, das Suͤjet des Gemaͤl- des
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Kritiſche Waͤlder.
Goͤtter, die ihm ſonſt einzeln nothwendig waren.
Jmmerhin laſſe er auch ſeine Handlung dem ab-
ſtrakten Charakter ſichtlich widerſprechen: immer-
hin male er uns auch eine auf ihren Kupido zuͤrnen-
de Venus; denn wenn ſie auch in dieſem Augen-
blick nicht die Liebe ſelbſt bliebe, ſo bleibt ſie doch,
was ſie urſpruͤnglich iſt, die Goͤttinn der Liebe, die
Mutter des Kupido. Kann er Venus und den
getoͤdteten Adonis in maleriſche Handlung bringen:
ſo ruffen wir der Venus mit dem Dichter zu: „was
„ſchlaͤfſt du, Cytherea, auf purpurnen Decken!
„Stehe auf, Ungluͤckſelige, zeuch Trauerkleider
„an, und ſchlage an deine Bruſt, und klage der
„ganzen Welt: er iſt nicht mehr, der ſchoͤne Ado-
„nis! und immerhin wollen wir auch Adonis ſe-
„hen, wie ihn der Dichter ſieht: Er liegt, der
„ſchoͤne Adonis liegt ausgeſtreckt auf dem Gebirge.
„Ein moͤrderiſcher Zahn hat ſeine zarte Huͤfte ver-
„letzt. Noch einen letzten Seufzer athmet er:
„ſchwarzes Blut rinnt uͤber den Leib, der blenden-
„der iſt, als Schnee. Das Licht ſeiner Augen
„verliſcht: die Lippen erblaſſen: Adonis ſtirbt.„
Stirbt Adonis etwa, als die Jdee ehelicher Liebe
und Gluͤckſeligkeit und Schoͤnheit? trauret Venus,
um die Jdee der Liebe in Maſke zu zeigen? Wird
die letztere jedem geſunden mythologiſchen Auge deß-
wegen hier kenntlich werden, weil ſie das Abſtrak-
tum der Liebe macht? Nein, das Suͤjet des Gemaͤl-
des
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