[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. "sind, die über ihren allgemeinen Charakter noch"andre Eigenschaften und Affekten haben, wel- "che nach Gelegenheit der Umstände vor jenen "vorstechen können, wie Hr. L. sagt a); sondern daß diese andre Eigenschaften und Affekten, kurz! eine gewisse eigne Jndividualität ihr wahres Wesen, und der allgemeine Charakter, der etwa aus die- ser Jndividualität abgezogen, uur ein späterer, un- vollkommener Begriff sey, der immer untergeord- net bleiben mußte, ja bei Dichtern oft in gar kei- nen Betracht komme. Nun schließe ich weiter. Wenn also in der My- Bei jeder einzelnen Figur also, und mithin histo- a) p. 99.
Kritiſche Waͤlder. „ſind, die uͤber ihren allgemeinen Charakter noch„andre Eigenſchaften und Affekten haben, wel- „che nach Gelegenheit der Umſtaͤnde vor jenen „vorſtechen koͤnnen, wie Hr. L. ſagt a); ſondern daß dieſe andre Eigenſchaften und Affekten, kurz! eine gewiſſe eigne Jndividualitaͤt ihr wahres Weſen, und der allgemeine Charakter, der etwa aus die- ſer Jndividualitaͤt abgezogen, uur ein ſpaͤterer, un- vollkommener Begriff ſey, der immer untergeord- net bleiben mußte, ja bei Dichtern oft in gar kei- nen Betracht komme. Nun ſchließe ich weiter. Wenn alſo in der My- Bei jeder einzelnen Figur alſo, und mithin hiſto- a) p. 99.
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Kritiſche Waͤlder.
„ſind, die uͤber ihren allgemeinen Charakter noch
„andre Eigenſchaften und Affekten haben, wel-
„che nach Gelegenheit der Umſtaͤnde vor jenen
„vorſtechen koͤnnen, wie Hr. L. ſagt a); ſondern daß
dieſe andre Eigenſchaften und Affekten, kurz!
eine gewiſſe eigne Jndividualitaͤt ihr wahres Weſen,
und der allgemeine Charakter, der etwa aus die-
ſer Jndividualitaͤt abgezogen, uur ein ſpaͤterer, un-
vollkommener Begriff ſey, der immer untergeord-
net bleiben mußte, ja bei Dichtern oft in gar kei-
nen Betracht komme.
Nun ſchließe ich weiter. Wenn alſo in der My-
thologie und Geiſterlehre der aͤlteſten Dichter der
individuelle, oder hiſtoriſch handelnde Theil vor dem
charakteriſtiſch handelnden das Uebergewicht behaͤlt:
und eben dieſe Dichter doch die urſpruͤnglichen Stif-
ter und Vaͤter dieſer Mythologie und Geiſterlehre
geweſen; ſo ſei die bildende Kunſt, ſo fern ſie my-
thologiſch iſt, blos ihre Dienerinn. Sie entlehnt
ihre Geſchoͤpfe und Vorſtellungen, ſo fern ſie ſie
brauchen und ausdruͤcken kann.
Bei jeder einzelnen Figur alſo, und mithin
meiſtens bei den Werken der Bildhauer, die einzelne
Geſtalten bilden, fodert es der Mangel, die Graͤn-
zen, nicht aber das Weſen der Kunſt, die Per-
ſonen mehr charakteriſtiſch, als individuell, auszu-
druͤcken: denn ſonſt verirren ſie ſich in die Menge
hiſto-
a) p. 99.
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