dern die sich gleichsam ankündigende Bewegung, die aufgehende Morgenröthe: die uns zu beiden Sei- ten hinschauen läßt, und also einzig und allein ewi- gen Anblick gewähret.
Auf die Art generalisiren sich die Begriffe des Unterschiedes von selbst, und wir reden nicht mehr, von Bildhauerei und Poesie, sondern von Künsten überhaupt, die Werke liefern, oder durch eine unterbrochne Energie wirken. Was von der Poesie gilt, wird, in diesem Betrachte, auch von Musik und Tanze gelten; denn auch diese wirken nicht für einen Anblick, sondern für eine Folge von Augenblicken, deren Verbindung eben die Wirkung der Kunst macht: sie haben also durchaus andre Gesetze. Es heißt also auch nicht, den römischen Dichter Laokoons erklärt; wenn ich anführe a), daß sein clamores horrendos ad sidera tollit kein schie- fes schreiendes Maul, und keinen häßlichen Anblick vorweise: denn freilich arbeitete er nicht fürs Auge, und noch minder ward dieser Zug seines Gemäldes ewi- ger Anblick, im malerischen Verstande. Aber wie? wenn seine ganze Schilderung, die ich als ein Gemälde für meine Seele betrachte, mir keinen andern innern Zustand des Laokoon zeigte, als der in diesem Schreie liegt: bleibt alsdenn nicht auch im Gemälde des Dichters dieser Zug Hauptfigur? Wenn ich mich an den virgilianischen Laokoon erin-
nere,
a) Laok. p. 30.
Kritiſche Waͤlder.
dern die ſich gleichſam ankuͤndigende Bewegung, die aufgehende Morgenroͤthe: die uns zu beiden Sei- ten hinſchauen laͤßt, und alſo einzig und allein ewi- gen Anblick gewaͤhret.
Auf die Art generaliſiren ſich die Begriffe des Unterſchiedes von ſelbſt, und wir reden nicht mehr, von Bildhauerei und Poeſie, ſondern von Kuͤnſten uͤberhaupt, die Werke liefern, oder durch eine unterbrochne Energie wirken. Was von der Poeſie gilt, wird, in dieſem Betrachte, auch von Muſik und Tanze gelten; denn auch dieſe wirken nicht fuͤr einen Anblick, ſondern fuͤr eine Folge von Augenblicken, deren Verbindung eben die Wirkung der Kunſt macht: ſie haben alſo durchaus andre Geſetze. Es heißt alſo auch nicht, den roͤmiſchen Dichter Laokoons erklaͤrt; wenn ich anfuͤhre a), daß ſein clamores horrendos ad ſidera tollit kein ſchie- fes ſchreiendes Maul, und keinen haͤßlichen Anblick vorweiſe: denn freilich arbeitete er nicht fuͤrs Auge, und noch minder ward dieſer Zug ſeines Gemaͤldes ewi- ger Anblick, im maleriſchen Verſtande. Aber wie? wenn ſeine ganze Schilderung, die ich als ein Gemaͤlde fuͤr meine Seele betrachte, mir keinen andern innern Zuſtand des Laokoon zeigte, als der in dieſem Schreie liegt: bleibt alsdenn nicht auch im Gemaͤlde des Dichters dieſer Zug Hauptfigur? Wenn ich mich an den virgilianiſchen Laokoon erin-
nere,
a) Laok. p. 30.
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Kritiſche Waͤlder.
dern die ſich gleichſam ankuͤndigende Bewegung, die
aufgehende Morgenroͤthe: die uns zu beiden Sei-
ten hinſchauen laͤßt, und alſo einzig und allein ewi-
gen Anblick gewaͤhret.
Auf die Art generaliſiren ſich die Begriffe
des Unterſchiedes von ſelbſt, und wir reden nicht
mehr, von Bildhauerei und Poeſie, ſondern von
Kuͤnſten uͤberhaupt, die Werke liefern, oder durch
eine unterbrochne Energie wirken. Was von der
Poeſie gilt, wird, in dieſem Betrachte, auch von
Muſik und Tanze gelten; denn auch dieſe wirken
nicht fuͤr einen Anblick, ſondern fuͤr eine Folge von
Augenblicken, deren Verbindung eben die Wirkung
der Kunſt macht: ſie haben alſo durchaus andre
Geſetze. Es heißt alſo auch nicht, den roͤmiſchen
Dichter Laokoons erklaͤrt; wenn ich anfuͤhre a), daß
ſein clamores horrendos ad ſidera tollit kein ſchie-
fes ſchreiendes Maul, und keinen haͤßlichen Anblick
vorweiſe: denn freilich arbeitete er nicht fuͤrs Auge, und
noch minder ward dieſer Zug ſeines Gemaͤldes ewi-
ger Anblick, im maleriſchen Verſtande. Aber
wie? wenn ſeine ganze Schilderung, die ich als ein
Gemaͤlde fuͤr meine Seele betrachte, mir keinen
andern innern Zuſtand des Laokoon zeigte, als der in
dieſem Schreie liegt: bleibt alsdenn nicht auch im
Gemaͤlde des Dichters dieſer Zug Hauptfigur?
Wenn ich mich an den virgilianiſchen Laokoon erin-
nere,
a) Laok. p. 30.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/124>, abgerufen am 16.02.2025.
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