Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
Geck! so gut werde ich auch endlich zu Myrons Kuh
sagen können: nun so gehe doch fort, was stehest
du? -- Und so viel Ursache ich habe, einen schrei-
enden, einen unabläßig schreienden Laokoon endlich
unleidlich zu finden; so viel Ursache werde ich, nut
etwas später, finden, auch den seufzenden Laokoon
überdrüßig zu werden, weil er noch immer seufzet.
Endlich also auch den stehenden Laokoon, daß er im-
merhin stehet, und sich noch nicht gesetzet hat: end-
lich auch eine Rose von Huisum, daß sie noch blühet,
noch nicht verweset ist: endlich also jede Nachah-
mung der Natur durch Kunst. Jn der Natur
ist Alles übergehend, Leidenschaft der Seele und Em-
pfindung des Körpers: Thätigkeit der Seele und
Bewegung des Körpers: jeder Zustand der wan-
delbaren endlichen Natur. Hat nun die Kunst nur
einen Augenblick, in den Alles eingeschlossen werden
soll: so wird jeder veränderliche Zustand der Natur
durch sie unnatürlich verewigt, und so hört mit die-
sem Grundsatze alle Nachahmung der Natur durch
Kunst auf.

Nichts ist gefährlicher, als eine Delikatesse un-
sres Geschmacks in einen allgemeinen Grundsatz zu
bringen, und sie in ein Gesetz zu schlagen: sie giebt
alsdenn bei einer guten gewiß zehn mißliche Seiten.
Hr. L. wollte den höchsten Grad des Affekts von der
Bildung einer Bildsäule ausschließen; gut! Er gab
aber davon die Ursache, daß diese Leidenschaft tran-

sitorisch

Kritiſche Waͤlder.
Geck! ſo gut werde ich auch endlich zu Myrons Kuh
ſagen koͤnnen: nun ſo gehe doch fort, was ſteheſt
du? — Und ſo viel Urſache ich habe, einen ſchrei-
enden, einen unablaͤßig ſchreienden Laokoon endlich
unleidlich zu finden; ſo viel Urſache werde ich, nut
etwas ſpaͤter, finden, auch den ſeufzenden Laokoon
uͤberdruͤßig zu werden, weil er noch immer ſeufzet.
Endlich alſo auch den ſtehenden Laokoon, daß er im-
merhin ſtehet, und ſich noch nicht geſetzet hat: end-
lich auch eine Roſe von Huiſum, daß ſie noch bluͤhet,
noch nicht verweſet iſt: endlich alſo jede Nachah-
mung der Natur durch Kunſt. Jn der Natur
iſt Alles uͤbergehend, Leidenſchaft der Seele und Em-
pfindung des Koͤrpers: Thaͤtigkeit der Seele und
Bewegung des Koͤrpers: jeder Zuſtand der wan-
delbaren endlichen Natur. Hat nun die Kunſt nur
einen Augenblick, in den Alles eingeſchloſſen werden
ſoll: ſo wird jeder veraͤnderliche Zuſtand der Natur
durch ſie unnatuͤrlich verewigt, und ſo hoͤrt mit die-
ſem Grundſatze alle Nachahmung der Natur durch
Kunſt auf.

Nichts iſt gefaͤhrlicher, als eine Delikateſſe un-
ſres Geſchmacks in einen allgemeinen Grundſatz zu
bringen, und ſie in ein Geſetz zu ſchlagen: ſie giebt
alsdenn bei einer guten gewiß zehn mißliche Seiten.
Hr. L. wollte den hoͤchſten Grad des Affekts von der
Bildung einer Bildſaͤule ausſchließen; gut! Er gab
aber davon die Urſache, daß dieſe Leidenſchaft tran-

ſitoriſch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0116" n="110"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
Geck! &#x017F;o gut werde ich auch endlich zu Myrons Kuh<lb/>
&#x017F;agen ko&#x0364;nnen: nun &#x017F;o gehe doch fort, was &#x017F;tehe&#x017F;t<lb/>
du? &#x2014; Und &#x017F;o viel Ur&#x017F;ache ich habe, einen &#x017F;chrei-<lb/>
enden, einen unabla&#x0364;ßig &#x017F;chreienden Laokoon endlich<lb/>
unleidlich zu finden; &#x017F;o viel Ur&#x017F;ache werde ich, nut<lb/>
etwas &#x017F;pa&#x0364;ter, finden, auch den &#x017F;eufzenden Laokoon<lb/>
u&#x0364;berdru&#x0364;ßig zu werden, weil er noch immer &#x017F;eufzet.<lb/>
Endlich al&#x017F;o auch den &#x017F;tehenden Laokoon, daß er im-<lb/>
merhin &#x017F;tehet, und &#x017F;ich noch nicht ge&#x017F;etzet hat: end-<lb/>
lich auch eine Ro&#x017F;e von Hui&#x017F;um, daß &#x017F;ie noch blu&#x0364;het,<lb/>
noch nicht verwe&#x017F;et i&#x017F;t: endlich al&#x017F;o jede Nachah-<lb/>
mung der Natur durch Kun&#x017F;t. Jn der Natur<lb/>
i&#x017F;t Alles u&#x0364;bergehend, Leiden&#x017F;chaft der Seele und Em-<lb/>
pfindung des Ko&#x0364;rpers: Tha&#x0364;tigkeit der Seele und<lb/>
Bewegung des Ko&#x0364;rpers: jeder Zu&#x017F;tand der wan-<lb/>
delbaren endlichen Natur. Hat nun die Kun&#x017F;t nur<lb/>
einen Augenblick, in den Alles einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en werden<lb/>
&#x017F;oll: &#x017F;o wird jeder vera&#x0364;nderliche Zu&#x017F;tand der Natur<lb/>
durch &#x017F;ie unnatu&#x0364;rlich verewigt, und &#x017F;o ho&#x0364;rt mit die-<lb/>
&#x017F;em Grund&#x017F;atze alle Nachahmung der Natur durch<lb/>
Kun&#x017F;t auf.</p><lb/>
          <p>Nichts i&#x017F;t gefa&#x0364;hrlicher, als eine Delikate&#x017F;&#x017F;e un-<lb/>
&#x017F;res Ge&#x017F;chmacks in einen allgemeinen Grund&#x017F;atz zu<lb/>
bringen, und &#x017F;ie in ein Ge&#x017F;etz zu &#x017F;chlagen: &#x017F;ie giebt<lb/>
alsdenn bei einer guten gewiß zehn mißliche Seiten.<lb/>
Hr. L. wollte den ho&#x0364;ch&#x017F;ten Grad des Affekts von der<lb/>
Bildung einer Bild&#x017F;a&#x0364;ule aus&#x017F;chließen; gut! Er gab<lb/>
aber davon die Ur&#x017F;ache, daß die&#x017F;e Leiden&#x017F;chaft tran-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;itori&#x017F;ch</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[110/0116] Kritiſche Waͤlder. Geck! ſo gut werde ich auch endlich zu Myrons Kuh ſagen koͤnnen: nun ſo gehe doch fort, was ſteheſt du? — Und ſo viel Urſache ich habe, einen ſchrei- enden, einen unablaͤßig ſchreienden Laokoon endlich unleidlich zu finden; ſo viel Urſache werde ich, nut etwas ſpaͤter, finden, auch den ſeufzenden Laokoon uͤberdruͤßig zu werden, weil er noch immer ſeufzet. Endlich alſo auch den ſtehenden Laokoon, daß er im- merhin ſtehet, und ſich noch nicht geſetzet hat: end- lich auch eine Roſe von Huiſum, daß ſie noch bluͤhet, noch nicht verweſet iſt: endlich alſo jede Nachah- mung der Natur durch Kunſt. Jn der Natur iſt Alles uͤbergehend, Leidenſchaft der Seele und Em- pfindung des Koͤrpers: Thaͤtigkeit der Seele und Bewegung des Koͤrpers: jeder Zuſtand der wan- delbaren endlichen Natur. Hat nun die Kunſt nur einen Augenblick, in den Alles eingeſchloſſen werden ſoll: ſo wird jeder veraͤnderliche Zuſtand der Natur durch ſie unnatuͤrlich verewigt, und ſo hoͤrt mit die- ſem Grundſatze alle Nachahmung der Natur durch Kunſt auf. Nichts iſt gefaͤhrlicher, als eine Delikateſſe un- ſres Geſchmacks in einen allgemeinen Grundſatz zu bringen, und ſie in ein Geſetz zu ſchlagen: ſie giebt alsdenn bei einer guten gewiß zehn mißliche Seiten. Hr. L. wollte den hoͤchſten Grad des Affekts von der Bildung einer Bildſaͤule ausſchließen; gut! Er gab aber davon die Urſache, daß dieſe Leidenſchaft tran- ſitoriſch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/116
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/116>, abgerufen am 22.11.2024.