diese kann also der Künstler Erscheinungen liefern: er schildere Körper, er ahme nach die bleibende Natur.
Wenn aber diese bleibende Natur auch zugleich todte Natur wäre? wenn das Jntransitorische eines Körpers eben von seiner Unbeseeltheit zeugte? Als- denn, dies bleibende Jntransitorische des Gegen- standes zum Augenmerke der Kunst ohne Einschrän- kung gemacht -- was anders, als daß mit diesem Grundsatz der Kunst auch -- ihr bester Ausdruck genommen würde? Denke dir, mein Leser, einen seelenvollen Ausdruck durch einen Körper, welchen du wollest, und er ist vorübergehend. Je mehr er eine menschliche Leidenschaft charakterisiret; um so mehr bezeichnet er einen veränderlichen Zustand der menschlichen Natur, und um so mehr "erhält er "durch die Verlängerung der Kunst ein widerna- "türliches Ansehen, das mit jeder wiederholten Er- "blickung den Eindruck schwächet, und uns end- "lich vor dem ganzen Gegenstande Ekel oder Grauen "verursacht." Die Einbildungskraft habe noch so viel Spielraum, noch so viel Flug: so muß sie doch endlich einmal an eine Grenze stoßen, und un- willig wieder zurück kommen; ja, je schneller sie ge- het, je prägnanter der gewählte Augenblick sey, um so eher kommt sie zu Ziel. So gut als ich zu einem lachenden la Mettrie sagen kann, wenn ich ihn zum dritten, viertenmal, noch lachend sehe: du bist ein
Geck!
Erſtes Waͤldchen.
dieſe kann alſo der Kuͤnſtler Erſcheinungen liefern: er ſchildere Koͤrper, er ahme nach die bleibende Natur.
Wenn aber dieſe bleibende Natur auch zugleich todte Natur waͤre? wenn das Jntranſitoriſche eines Koͤrpers eben von ſeiner Unbeſeeltheit zeugte? Als- denn, dies bleibende Jntranſitoriſche des Gegen- ſtandes zum Augenmerke der Kunſt ohne Einſchraͤn- kung gemacht — was anders, als daß mit dieſem Grundſatz der Kunſt auch — ihr beſter Ausdruck genommen wuͤrde? Denke dir, mein Leſer, einen ſeelenvollen Ausdruck durch einen Koͤrper, welchen du wolleſt, und er iſt voruͤbergehend. Je mehr er eine menſchliche Leidenſchaft charakteriſiret; um ſo mehr bezeichnet er einen veraͤnderlichen Zuſtand der menſchlichen Natur, und um ſo mehr „erhaͤlt er „durch die Verlaͤngerung der Kunſt ein widerna- „tuͤrliches Anſehen, das mit jeder wiederholten Er- „blickung den Eindruck ſchwaͤchet, und uns end- „lich vor dem ganzen Gegenſtande Ekel oder Grauen „verurſacht.„ Die Einbildungskraft habe noch ſo viel Spielraum, noch ſo viel Flug: ſo muß ſie doch endlich einmal an eine Grenze ſtoßen, und un- willig wieder zuruͤck kommen; ja, je ſchneller ſie ge- het, je praͤgnanter der gewaͤhlte Augenblick ſey, um ſo eher kommt ſie zu Ziel. So gut als ich zu einem lachenden la Mettrie ſagen kann, wenn ich ihn zum dritten, viertenmal, noch lachend ſehe: du biſt ein
Geck!
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Erſtes Waͤldchen.
dieſe kann alſo der Kuͤnſtler Erſcheinungen liefern:
er ſchildere Koͤrper, er ahme nach die bleibende
Natur.
Wenn aber dieſe bleibende Natur auch zugleich
todte Natur waͤre? wenn das Jntranſitoriſche eines
Koͤrpers eben von ſeiner Unbeſeeltheit zeugte? Als-
denn, dies bleibende Jntranſitoriſche des Gegen-
ſtandes zum Augenmerke der Kunſt ohne Einſchraͤn-
kung gemacht — was anders, als daß mit dieſem
Grundſatz der Kunſt auch — ihr beſter Ausdruck
genommen wuͤrde? Denke dir, mein Leſer, einen
ſeelenvollen Ausdruck durch einen Koͤrper, welchen
du wolleſt, und er iſt voruͤbergehend. Je mehr er
eine menſchliche Leidenſchaft charakteriſiret; um ſo
mehr bezeichnet er einen veraͤnderlichen Zuſtand der
menſchlichen Natur, und um ſo mehr „erhaͤlt er
„durch die Verlaͤngerung der Kunſt ein widerna-
„tuͤrliches Anſehen, das mit jeder wiederholten Er-
„blickung den Eindruck ſchwaͤchet, und uns end-
„lich vor dem ganzen Gegenſtande Ekel oder Grauen
„verurſacht.„ Die Einbildungskraft habe noch
ſo viel Spielraum, noch ſo viel Flug: ſo muß ſie
doch endlich einmal an eine Grenze ſtoßen, und un-
willig wieder zuruͤck kommen; ja, je ſchneller ſie ge-
het, je praͤgnanter der gewaͤhlte Augenblick ſey, um
ſo eher kommt ſie zu Ziel. So gut als ich zu einem
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/115>, abgerufen am 16.02.2025.
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